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Social Media


Intensivierung sozialer Transformation durch Beschleunigung,
Reproduktion und Algorithmisierung der Bildlichkeit in Social Media

Vor dem Hintergrund des Plattformkapitalismus (Srincek, 2018) und einer hegemonial ausgerichteten Algorithmisierung (Galloway & Thacker, 2007; Jörissen, 2020) hat sich paradoxerweise die Hoffnung des frühen Internets auf verteilte Handlungsmacht, Sichtbarkeit für alle, Pluralisierung und Freiraum für diverse Identitäten unter anderen Vorzeichen doch eingelöst: Global kommerziell erfolgreiche Plattformen wie Facebook, Instagram, TikTok etc. bieten niedrigschwellig Sichtbarkeit an, vereinfachen Content-Produktion, suggerieren Relevanz der Selbstpräsentation (du bist wichtig, du bist ein Teil des Netzwerkes). Mediale Produktion und Sichtbarkeit sind historisch gesehen nicht mehr professionellen Medienakteuren, Institutionen und damit z.B. auch journalistischen Gatekeeper*innen vorbehalten. Plattformen haben jedoch ökonomische/kapitalistische Interessen (Zuboff, 2019); um marktfähig zu bleiben, beziehen sie zwar Interessen und/oder Bedürfnisse von Nutzer*innen mit ein (reaktiv und produktiv), primäres Interesse ist jedoch Umsatz zu machen. Ihre Interfaces, Algorithmen und Policies gestalten, wie schon historische mediale Technologien (Kittler, 1987, 2003; McLuhan, 2003), die Art und Weise, wie was zu sehen gegeben wird, wesentlich mit (boyd, 2011; Bucher & Helmond, 2017; van Dijck, 2013).

Das Web 2.0 bzw. 3.0 ermöglicht also Partizipation an Öffentlichkeit und Debatten, an medialer Gestaltung, an vernetzten Kommunikationsräumen jeglicher Spielart und zu jedem vorstellbaren Thema. Die in den 90er Jahren mit dem Internet verknüpfte Hoffnung wird also für jene eingelöst, die Zugang und entsprechende Ressourcen haben (Nieminen, 2016), allerdings unter der Bedingung der Unterwerfung unter die Logiken und Geschäftsmodelle der jeweiligen Plattformen. Plattformen bieten also Ermächtigung durch Unterwerfung. Sind sie erstmal online, sind User*innen mit ihrem Content potentiell global sichtbar, doch ob und wie weit sie tatsächlich gesehen werden, bleibt erstmal offen und wird zudem von Algorithmen gesteuert. Die Struktur des Internets und der erwähnten Plattformen ermöglichen jedenfalls ein Entstehen von spezifischen Subkulturen, in der sich die jeweilig relevanten User*innen zu diversen Themen und translokal zu kommunikativen Gemeinschaften zusammenschließen (Krotz, 2009). Die partizipative Wende geht einher mit Verfügbarkeit von Technik, Infrastruktur und Bandbreite sowie einer Professionalisierung von Bild und Videoproduktionstechniken (Bruns, 2016; Deuze, 2006). Gleichzeitig werden Daten der User*innen an Werbetreibende verkauft („If you don’t pay for it, you’re the product“ (Orlowski, 2020)) und die Sichtbarkeiten von Inhalten werden algorithmisch gesteuert oder von den User*innen selbst kuratiert, Stichwort Filter Bubbles. Inwiefern Social Media nun tatsächlich vor allem zur Verfestigung existierender Einstellungen beitragen oder mitunter sogar neue Perspektiven ermöglichen, bleibt jedoch empirisch umstritten (Jones-Jang & Chung, 2022).

Welche Relevanz haben diese Dynamiken in Hinblick auf transformative Bildlichkeit?

Vor allem Instagram forcierte nicht nur eine mediale Ästhetisierung des Alltags sondern auch eine Veralltäglichung der medialen Ästhetik bzw. des ästhetischen Wahrnehmens und Denkens (Leaver et al., 2020): Wir denken uns als (digital-fotografische) Bilder, mit der omnipräsenten Kamera am Smartphone (Schreiber, 2020) bzw. am Laptop (Carnap & Flasche, 2023) antizipieren wir laufend die potentielle Bildhaftigkeit unseres Selbst und unserer Lebenswelten: z.B. in Zoom, wenn wir unser Bild im Hinblick auf den Kameraausschnitt prüfen oder wenn wir die sonnenbeschienene Kaffeetasse gedanklich bereits als Posting rahmen. Wahrnehmungsweisen und Darstellungskonventionen werden durch Plattformen transformiert, Filter und Gestaltungskriterien werden gelernt und verinnerlicht: entsprechende soziale Normen und Werte, was wo wie zeigbar und sagbar ist, etablieren sich, Bilder werden plattformspezifisch produziert (Flasche & Carnap, 2021; Schreiber, 2017).

Eine thematische Entgrenzung ist dabei weiterer Teil der Niedrigschwelligkeit von Social Media: Alle Themen und Bilder des eigenen Lebens sind potentiell verplattformbar, also relevant genug, um zum Bild gemacht und einer diffusen vernetzten Öffentlichkeit (boyd, 2011) gezeigt zu werden. Eine unendliche Vielzahl von Themen existiert nebeneinander, Genres und Typiken sind vielfältig kombinierbar. Das potentielle wilde Durcheinander von Themen ist auch ein Ergebnis der partizipativen Wende, die mit der Etablierung des Web 2.0 einherging. Was davon wie sichtbar ist oder wird, bzw. ob und wie (vermeintliche) Ordnung entsteht ist jedoch wiederum für jede*n User*in maßgeschneidert, da kein Social-Media-Feed gleich aussieht; jede*r User*in sieht eine andere Kombination von Content – das ist mehr oder weniger selbst intentional kuratiert (durch Abos, Hashtags,..), aber immer auch algorithmisch fremdgesteuert. Die Machtverhältnisse hinter diesen Sichtbarkeiten sind für User*innen und Forscher*innen schwer nachvollziehbar, bleiben damit oft im Raum der Spekulation bzw. Imagination (Bucher, 2017; Cotter et al., 2022).

 

Plattformspezifische Transformationen

Neben vielfältigen gestalterischen Möglichkeiten durch simple Programme auf dem Smartphone (wie z.B. Canva) haben sich vor allem auf TikTok Audio- und Videomemes durchgesetzt. Sie geben Schablonen vor, strukturieren damit den eigenen Inhalt und setzen gleichzeitig Kreativität frei. Sie begrenzen nicht nur den kreativen Spielraum, sondern inspirieren zu Handlungen. Es wiederholt sich die Ambivalenz von Ermächtigung und Unterwerfung auch auf der Mikroebene der Contentproduktion:

„Der Kreativität der Vielen, die das ‚Mitmach-Internet‘ überhaupt erst als solches hervorgebracht hat, kommt in Form der Plattformen eine im Sinne der Partizipation gegenläufige Funktion zu: Subjektdezentrierende und kollektiv ausgerichtete Strategien sind die Lösung des ökonomischen Kernproblems der Plattform, beständig Content zu erzeugen und das Engagement zu erhöhen“ (Flasche, 2022).

Basale emotionale Reflexe und kondensierte Affekte sind hier zentral für den Content auf den aktuell populären Plattformen, wenn beispielsweise Videos auf Niedlichkeit, Ekel oder den schnellen Witz zugeschnitten sind und sich die Anzeigealgorithmen eben auf diese affektiven Bezugsformen hin strukturieren (Breljak & Mühlhoff, 2019). Gleichzeitig ist der Content im Zuge der Pandemie gesamt ernster bzw. politischer geworden (Literat & Kligler-Vilenchik, 2019; Ovide, 2022).

Instagram wiederum ist weniger schick und ebenfalls politischer bzw. diskursiver geworden, damit einhergehend gibt es auf der vormals stark visuellen Plattform einen Trend bzw. Tendenz zu Schrift und Text statt bzw. zusätzlich zu Bild und Video: Hier stellt sich die Frage, warum bzw. inwiefern der mediale Modus von Bildlichkeit/Ikonizität nicht mehr ‚ausreicht‘? In der Tradition des Memes einen diffus bestimmten Bildkanon (https://knowyourmeme.com) mit immer neuen Phrasen und Parolen zu kombinieren, wird Kommunikation weniger atmosphärisch und emotional, die Polysemie des Bildes steht der Klarheit von Text/Sprache gegenüber: User*innen sind im Zuge sozialer Transformationen und Krisen mit einem Positionierungssdruck der netzwerktypisch diffusen Öffentlichkeit gegenüber konfrontiert, der mehr eindeutige Kommunikation verlangt (für oder gegen Impfung? Anti-Rassismus?). Beispielsweise müssen Kriegsbilder entweder gemeinsam mit dem kleinen russischen oder ukrainischen Flaggen-Emoji zusammen gepostet oder dieses in das Bild hinein montiert werden, damit die Kontexte eindeutig abgesteckt werden können. Kondensierte, häppchenweise Wissensvermittlung wird verlangt bzw. hat sich etabliert und Social Media sind zur primären Nachrichtenquelle (junger) Menschen geworden (Arceneaux & Dinu, 2018; Newman et al., 2019; Russmann & Hess, 2020). Politische Themen werden hier in demselben Stil verhandelt, der primär für Games- oder Filmrezensionen typisch war (z.B. bei dem Youtuber Rezo https://www.youtube.com/c/Renzo69). Dass Social-Media-Content- Creators somit von User*innen zu einer Art neue Journalist*innen gemacht werden, ist teilhabepolitisch bedenklich, weil diese keine institutionelle Legitimation haben. Fraglich ist zudem, inwiefern traditionelle professionelle berufsethische Ansprüche wie Objektivität oder Transparenz eingehalten werden (können).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Plattformen bzw. Social Media das Verhältnis von Gesellschaft und Bildlichkeit in den letzten beiden Jahrzehnten wesentlich mittransformiert haben. Als wesentliche übergreifende Dynamiken lassen sich dabei identifizieren

  • Ermächtigung durch Unterwerfung,
  • Demokratisierung/Partizipation an globalen Bildwelten,
  • thematische Entgrenzung/Veralltäglichung von Ästhetik
  • (algorithmisch) kuratierte Sichtbarkeiten
  • Gleichzeitigkeit von Politisierung und Affektausrichtung

LITERATUR

  • Arceneaux, P. C., & Dinu, L. F. (2018). The social mediated age of information: Twitter and Instagram as tools for information dissemination in higher education. New Media & Society, 20(11), 4155–4176.

    Literaturquelle
  • Boyd, D. (2011). Social Network Sites as Networked Publics. In Z. Papacharissi (Hrsg.), A Networked Self. Identity, Community, and Culture on Social Network Sites. (S. 39–58). Routledge.

  • Breljak, A., & Mühlhoff, R. (2019). Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? In R. Mühlhoff, A. Breljak, & J. Slaby (Hrsg.), Affekt Macht Netz (S. 7–34). transcript.

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  • Bruns, A. (2016). User-Generated Content. In The International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy (S. 1–5).

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  • Bucher, T. (2017). The algorithmic imaginary: Exploring the ordinary affects of Facebook algorithms. Information Communication and Society, 20(1), 30–44.

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  • Bucher, T., & Helmond, A. (2017). The affordances of social media platforms. In J. Burgess, T. Poell, & A. Marwick (Hrsg.), The SAGE handbook of social media (S. 30–44). SAGE Publications.

  • Carnap, A., & Flasche, V. (2023). Körper und Kacheln. Zur un-/möglichen Konjunktivität an der Zoom-Schnittstelle. Zeitschrift für Medienpädagogik, 0(0).

  • Cotter, K., Decook, J. R., Kanthawala, S., & Foyle, K. (2022). In FYP We Trust: The Divine Force of Algorithmic Conspirituality. International Journal of Communication, 16(1), 2911–2934.

  • Deuze, M. (2006). Participation, Remediation, Bricolage. The Information Society: An International Journal., 22(2), 63–75.

    Literaturquelle
  • Flasche, V. (2022). Jugendliche Selbstentwürfe an der Social-Media-Schnittstelle Ästhetische Artikulationen Jugendlicher auf und mit Social-Media-Plattformen zwischen 2012 und 2018 [Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)].

    Literaturquelle
  • Flasche, V., & Carnap, A. (2021). Zwischen Optimierung und ludischen Gegenstrategien: Ästhetische Praktiken von Jugendlichen an der Social Media Schnittstelle. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 42(1), 259–280.

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  • Galloway, A. R., & Thacker, E. (2007). The Exploit: A Theory of Networks. University of Minnesota Press.

  • Jones-Jang, S. M., & Chung, M. (2022). Can we blame social media for polarization? Counter- evidence against filter bubble claims during the COVID-19 pandemic. New Media & Society, 0(0), 1–20.

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  • Jörissen, B. (2020). Ästhetische Bildung im Regime des Komputablen. Zeitschrift für Pädagogik, 66(3), 341–356.

  • Kidler, F. A. (1987). Grammophon /Film /Typewriter. Fink.

  • Kidler, F. A. (2003). Aufschreibesysteme 1800, 1900. Fink.

  • Krotz, F. (2009). Posttraditionale Vergemeinschaftung und mediatisierte Kommunikation. In R. Hitzler, A. Honer, & M. Pfadenhauer (Hrsg.), Posttraditionale Gemeinschaften (S. 151–169). Springer VS.

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  • Leaver, T., Highfield, T., & Abidin, C. (2020). Instagram: Visual social media cultures. Polity Press.

  • Literat, I., & Kligler-Vilenchik, N. (2019). Youth collective political expression on social media: The role of affordances and memetic dimensions for voicing political views. New Media & Society, 21(9), 1988–2009.

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  • McLuhan, M. (2003). Understanding Media: The Extensions of Man. Gingko Press.

  • Newman, N., Fletcher, R., Kalogeropoulos, A., & Nielsen, R. K. (2019). Reuters Institute digital news report 2019 (S. 1–156). Reuters Institute for the Study of Journalism.

  • Nieminen, H. (2016). Digital divide and beyond: What do we know of Information and Communications Technology’s long-term social effects? Some uncomfortable questions. European Journal of Communication, 31(1), 19–32.

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  • Orlowski, J. (2020, September 9). The Social Dilemma [Dokumentation]. Netflix.

  • Ovide, S. (2022, August 17). Wasn’t TikTok Supposed to Be Fun? The New York Times.

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  • Russmann, U., & Hess, A. (2020). News consumption and trust in online and social media: An in-depth qualitative study of young adults in Austria. International Journal of Communication, 14(1), 3184–3201.

    Literaturquelle
  • Schreiber, M. (2020). Digitale Bildpraktiken: Handlungsdimensionen visueller vernetzter Kommunikation. Springer VS.

  • Srnicek, N. (2018). Plattform-Kapitalismus. Hamburger Edition.

  • van Dijck, J. (2013). The Culture of Connectivity: A Critical History of Social Media. Oxford Univ. Press.

    Literaturquelle
  • Zuboff, S. (2019). The age of surveillance capitalism: the fight for a human future at the new frontier of power. PublicAffairs.

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Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften
Prof. Dr. Claudia Dreke
Osterburger Straße 25
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