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Körper


Körper als Agenten transformativer Bildlichkeit

Der menschliche Körper ist die selbstverständlichste und daher unhinterfragteste Grundbedingung sozialen Lebens und miteinander Handelns. Wir haben ihn ,immer dabei‘, wie Goffman einfach konstatiert (1969). En passant gestaltet der (eigene) Körper und wird gestaltet, erzeugt Lust oder Unlust. In der Regel werden wir seiner Allgegenwart jedoch erst gewahr, wenn er Aufmerksamkeit, Irritation und Widerständigkeiten erzeugt. Dazu zählen Schmerzen und andere Symptome von Krankheit und Versehrtheit, Einschränkungen der gewohnten Bewegungsfreiheit, Begrenzungen sportlich wie intellektuell motivierter Zielsetzungen etc.. Auf ästhetischer Ebene kann er aber auch überdauernde mentale Missbefindlichkeiten in Bezug auf seine scheinbar ,natürliche‘ Beschaffenheit erzeugen: So etwa, wenn gesellschaftlich idealisierte Körperbilder, die oftmals mit Vorstellungen von Geschlecht verbunden sind (u.a. Kirchhoff 2016), nicht mit dem eigenen Körperschema übereinzustimmen scheinen. Er muss über entsprechende Körperarbeit schlanker, runder, muskulöser, zäher, symmetrischer, definierter etc. und daher optimiert werden (vgl. u.a. Glade/Schnell 2023; Schreiber 2021; Alkemeyer 2015, Gugutzer 2013). In einen solchen Körper schreiben sich nicht zuletzt kulturalisierte, teils politisch beeinflusste Hierarchien, Machtverhältnisse und Ungleichheiten ein in Routinen, die unseren Alltag ordnen und zumeist unhinterfragt bleiben. Differenzkategorien wie Herkunft, Bildungsstand, Ethnizität, Geschlecht, Behinderung und Alter etc. werden prima vista am Körper festgemacht (vgl. u.a. Villa 2012). Der Körper ist fragil und gleichzeitig konstanter Vermittler unserer selbst. Dabei spielt die visuelle Ebene eine, wenn nicht die zentrale Rolle: Der Körper agiert augenscheinlich als, über und durch das Bildliche, – er verkörpert auf dieser Ebene die Arten und Weisen seiner Sozialität (vgl. u.a. Gugutzer 2012).

Wer oder was wir sind, wird im Normalfall weder erfragt noch mitgeteilt, sondern dargestellt (vgl. mit Blick auf Geschlecht: u.a. Hirschauer 2004, S. 77). Eine Darstellung wird jedoch erst durch die Wahrnehmung zu einer solchen, wobei das gegenseitige „Sich-Anblicken“ eine zentrale Rolle spielt (Simmel 1992, S. 723): Wir machen uns ein Bild von etwas oder jemand anderem nicht nur, indem wir wahrnehmen, was passiert, sondern wie. Einhergehend ziehen wir Rückschlüsse auf bestimmte Motivationen oder Befindlichkeiten, die das Beobachtete in Gang setzen, vorantreiben oder scheitern lassen. Es erfolgt in ständig ab- und verlaufenden sozialen Praktiken des Alltags und hier freilich in verschiedenen Kontexten. Inwiefern der Körper darin zum vermittelnden Hauptakteur des Geschehens wird, lässt sich beschreiben, wenn wir uns auf der Basis praxistheoretischer Ansätze dem Körper entlang method(olog)ischer Fragestellungen auf der Ebene des Bildes nähern (vgl. u.a. Kirchhoff 2021). Mithin kann das ,Anblicken‘ unmittelbar in situ erfolgen, aber auch mittelbar über materiell wie digital produzierte Bilder, die den Körper in einer Vielzahl von Kontexten prominent inszenieren und zum Repräsentanten für etwas machen. Auch vermeintlich private Institutionen wie Partnerschaft/Ehe, Familie und darin wiederum Elternschaft, Kindheit und Jugend werden wirklich, indem bestimmte, zumeist idealisierte Bilder von ihnen reproduziert und immer wieder zur Aufführung gelangen. In diesem Sinne ist das Bild agierender wie situativ arrangierter Körper konstitutiv für die Herstellung sozialer Wirklichkeit.

Neben anderen betont Burri im Kontext medizinischen Professionshandelns die Bedeutung des Visuellen körperlicher Inszenierungen, „welches das Denken und Handeln in der sozialen Praxis zu beeinflussen vermag“ (2008, S. 351). Sie argumentiert daher für eine verstärkte Berücksichtigung des Bildes in der Sozialwissenschaft generell: Bilder dokumentierten soziale Praxen nicht nur, sondern seien selbst bereits soziale Praxis (Burri 2008: 351). Dies erscheint vor allem dann gegeben zu sein, wenn sozialwissenschaftliche Forschung auf den Körper in seiner „doppelten Gegebenheit“ fokussiert, – auf die Verschränkung von materialen, durch die Sinne erfahrbaren Körper im Verlauf praktischer Vollzüge und auf deren „leibliches Erleben“ (u.a. Jäger 2004, S. 56 ff.) während diese ablaufen bzw. nachgängig reflektiert werden. Er ist ohne weiteres reflexiv nicht verfügbar. Vereinfacht formuliert: Der Körper kann auf Fragen nicht antworten, auf der visuellen Ebene jedoch analytisch beobachtet und gefasst werden. Daran anschließend sind drei Dimensionen des Bildverstehens zu nennen, die in der ,Bildwissenschaft‘ oftmals analytisch voneinander getrennt verortet werden: Erstens, das innere Bild, das als Vorstellung, Idee, Eindruck von oder Erinnerung an etwas sedimentiert wird (Burri 2008, S. 342f.; Mietzner/ Pilarczyk 2005, S. 133ff.). In diesem Verständnis kommt dem Körper die Funktion des „Speichers“ oder des „Archivs“ zu. Er ist als solcher involviert in Prozesse der Wahrnehmung und neuerlichen Herstellung von Bildern (Kanter 2015). Zweitens, das Bild im Sinne seiner artefaktischen Existenz, das heißt, als visuelles und materielles Objekt (Burri 2008, S. 342) Je nach Art und Weise seiner materialen Verfasstheit, ist das Bild selbst durch ein gewisses Maß an Korporalität gekennzeichnet. Drittens, das Bild als physische Ausdrucksform, als körperliche Inszenierung und „Performance“ im Sinne einer theatralen Darstellung (Burri 2008; Fischer-Lichte 2013). In dieser wird der Körper zum agierenden Darsteller und ist in entsprechenden Bewegungen nebst ihrer Verläufe (auch) auf der Mikroebene zu beobachten.

In rezenter Forschung wurde vor diesem Hintergrund der Versuch unternommen, die drei Ebenen des Bildes im Zuge einer Analyse des Zusammenhangs von Körper und Geschlecht zusammen zu denken (vgl. u.a. Kirchhoff 2021). Indem danach gefragt wurde, wie Jugendliche das „kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit“ immer wieder neu erwerben und ihren eigenen Platz darin finden, musste im Rahmen einer „Analyse der Praxis der Unterscheidung“ (Hagemann-White 1984, zit. n. Gildemeister 2010, S. 141) auch nach der Bedeutung des Bildes gefragt werden. Dies umso mehr, als die genannten performativen Prozesse auch auf den Bühnen virtueller Räume und sozialer Plattformen der digitalen Medien vielfältig zu beobachten sind in Form von Bildern (Neumann- Braun/Autenrieth 2011; Fritzsche 2007). Das praxeologisch assoziierte Konzept des „Doing Gender“ war zwingend mit Visualität bzw. Bildlichkeit in Verbindung zu bringen (u.a. Fritzsche 2007; Klika/Kleynen 2007). Im Rahmen einer sukzessive sich entwickelnden Forschungsanlage („Gruppenwerkprozess“) ging es zunächst einmal darum, den Körper als unhinterfragteste Selbstverständlichkeit des Handelns und Erlebens von Alltag reflexiv verfügbar zu machen und damit auch ein ,Reden über den Körper‘ in situ zu ermöglichen (vgl. u.a. dies. 2016). Indem verbalisierende Verfahren durch verschiedene Arten von Bildern ergänzt bzw. ausgeweitet wurden im Zuge der jeweiligen Erhebung (Foto-Collagen und Gruppen-Selfies), konnte die Herstellung von Zugehörigkeiten zu einem bestimmten Geschlecht, einer bestimmten Gruppe, Sportart etc. sichtbar gemacht und die Rolle des Körpers in den entsprechenden Bildpraktiken identifiziert werden schließlich auch in Verbalisierungen, die nun durch einen zeigenden Charakter gekennzeichnet waren (vgl. ebd.). Gezeigt hat sich mittels eines solchen Vorgehens, dass bestimmte Ausgestaltungen des Körpers im Rahmen seiner Inszenierung situativ veränderlich sind, bestimmte Grundorientierungen an tradierten Geschlechterbildern jedoch fortbestehen, innere Bilder mithin abgerufen und sichtbar gemacht wurden (vgl. u.a. Kirchhoff/Zander 2018).

Zutage traten in dem genannten Verfahren Körperbilder, über die verschiedene Zugehörigkeiten sichtbar (gemacht) wurden, aber auch Bedeutungen von beteiligten ,Dingen‘, die mit den Menschen als ,verkörperten Akteur*innen‘ zu Praxisformen und Körperschaften eines bestimmten Bildhandelns wurden. Interaktiv erzeugte und als Bilder materialisierte Inszenierungen vor allem von Geschlecht fanden nicht nur zwischen den Körpern menschlicher Teilnehmer*innen der verschiedenen Bild-Praktiken statt, sondern auch zwischen diesen und nicht lebenden Körpern, die zur Produktion der verschiedenen Arten von Bildern beigetragen haben: So etwa (entstehende) Artefakte und Technologien (vgl. Kirchhoff 2021, S. 115). Über den Konnex von menschlichen Körpern und Bild hinaus ist demzufolge zu perspektivieren, dass ,Dinge‘ bei der Erzeugung von Körperbildern nicht reaktionär sind. Sie erzeugen nicht nur indirekte Wirkungen, indem sie durch menschliche Akteur*innen benutzt werden und dementsprechend mehr oder weniger funktionieren. Vielmehr können sie aufgrund ihrer je materiellen und daher immer auch korporalen Beschaffenheit ,von sich aus‘ an den verschiedenen Bildpraktiken teilnehmen, oder zur Teilnahme auffordern (vgl. Gugutzer 2015, S. 105). Latour spricht von Verbindungen dieser Art als „Aktanten“ (u.a. 2006). Als Positionierung zieht dies Konsequenzen für die Beobachtung interaktiver, durch Körper vollzogener Praktiken nach sich: Nicht nur ist der humane Körper – wie hier – im Rahmen evozierter und routinierter Bildpraktiken als eigenständiger Teilnehmer am Sozialen zu konzipieren, sondern im ,interobjektiven‘ Verbund eines aus dem Bildhandeln sich hervorhebenden Bestandteils eines Gruppenkörpers (vert. vgl. u.a. Hirschauer 2004). Anders formuliert, werden Bilder in entsprechenden Praktiken nicht nur erzeugt, sondern können ihrerseits wiederum dazu auffordern, bereits bestehende Vorstellungen von Körpern und ihren alltagspraktischen Einbindungen zu reproduzieren oder zu überschreiben.

LITERATUR

  • Alkemeyer, Thomas (2015): Gebietskartierung Verkörperte Soziologie - Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis, in: Soziologische Revue, 38, 4, S. 470-502.

  • Burri, Regula Valérie (2008): Bilder als soziale Praxis: Grundlegungen einer Soziologie des Visuellen. In: Zeitschrift für Soziologie, 37 (4), S. 342-358.

  • Fritzsche, Bettina (2007): Sozialisation und Geschlecht in der Medienkultur. In: Hoffmann, Dagmar/Mikos, Lothar (Hrsg.): Mediensozialisationstheorien. Neue Modelle und Ansätze in der Diskussion, S. 167-182. Wiesbaden

  • Gildemeister, Regine (2010): Geschlechterverhältnisse im Wandel. Empirische Vielfalt in resistenter Rahmung. Baden-Baden

  • Glade/Schnell 2023

  • Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München

  • Gugutzer, Robert (2015): Soziologie des Körpers. Bielefeld

  • Gugutzer, Robert (2012): Verkörperung des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld

  • Hirschauer, Stefan (2004): Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Hörning, K.H./Reuter, J. (Hrsg.): Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie. Bielefeld, S. 73-91

  • Hörning, K.H./Reuter, J. (Hrsg.): Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie. Bielefeld, S. 73-91

  • Jäger, U. (2004): Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung. Königstein/Taunus

  • Klika, D./Kleynen, T. (2007): Adoleszente Selbstinszenierung in Text und Bild. In: Friebertshäuser

  • Kirchhoff, Nicole (2021): Körperbilder und Bildkörper als soziale Praxis von Jugendlichen (Dissertationsschrift, u.a. Universitäts- und Landesbibliothek Jena)

  • Kirchhoff, Nicole/Zander, Benjamin (2018): Aussehen ist nicht wichtig. Zum Verhältnis von Körperbildern und Körperpraktiken bei der Herstellung von Geschlecht durch männliche und weibliche Jugendliche, in: Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 10, 1, S. 81-99.

  • Kirchhoff, Nicole (2016): Reden über den Körper als Handlungsproblem von Schüler/innen. Zur Erweiterung von Gruppendiskussionen durch Collagen und fotografische Selbst- Inszenierungen. Zeitschrift für Qualitative Forschung (ZQF), 17 (1-2), 107-131.

  • Latour, Bruno 2010: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk- Theorie, Frankfurt/M.

  • Latour, Bruno 2010: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk- Theorie, Frankfurt/M.

  • Mietzner, Ulrike/ Pilarczyk, Ulrike (2005): Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn

  • Villa, Paula (2012): Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Wiesbaden

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Hochschule Magdeburg-Stendal
Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften
Prof. Dr. Claudia Dreke
Osterburger Straße 25
39576 Stendal

claudia.dreke[at]h2.de

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