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Erinnerung


Erinnerung als bildbasierte (synästhetische), kommunikative und widersprüchliche Tätigkeit

Das Verhältnis von Bildern und Erinnerungen wird sozialwissenschaftlich stets dort bedeutsam, wo es um kollektive Erinnerung geht. Erinnerungen sind danach bildlich vermittelt.

Erinnerungsbilder lassen sich differenzieren in (1) innere Bilder als Bestandteile individueller und häufig synästhetischer Erinnerung, (2) Bilder als äußere, ästhetisch wahrnehmbare und medial vermittelte Gegenstände der Erinnerung, unter denen (3) vielfältig veröffentlichte ikonische Bilder besonders bedeutsam für kollektive Erinnerungen werden.

Die Zunahme technischer Möglichkeiten massenhafter Verbreitung von Bildern seit dem 19. Jahrhundert veränderte die entsprechenden Erinnerungsbereiche auch qualitativ: In die bildlich vermittelte Kommunikation können immer größere Öffentlichkeiten und immer mehr Themenbereiche eingezogen werden – nicht zuletzt durch Social Media. Damit erweitern und verändern sich auch die Möglichkeiten, gesellschaftliche Homogenisierungen und Differenzierungen zu fördern. Das zeigt sich in Massenbewegungen, sozialen Konflikten und der Zunahme immer differenzierterer Subkulturen.

1. Erinnerungen setzen sinnlich, häufig synästhetisch wahrgenommene Erlebnisse voraus. Sie können Ketten weiterer Erinnerungen auslösen.

Sich an etwas zu erinnern setzt ein früheres Erlebnis voraus, durch das eine Person sinnlich affiziert wurde. Diese erinnert sich dann an etwas, das sie ertastet, gesehen, gehört, gelesen, gerochen, geschmeckt oder gefühlt hat. Vielerlei kann eine Erinnerung auslösen: ein aktueller sinnlicher Eindruck, eine aktuelle Emotion, ein Bericht, ein Vorfall usw. – aber auch die bloße Erinnerung daran.Bilder oder akustische, haptische, olfaktorische Phänomene können wechselseitig aufeinander verweisen. Der Begriff der „Synästhesie“, in dessen anthropologisch-phänomenologischer Tradition, ist hier grundlegend (vgl. z.B. Bosch, 2022). In jeder Erinnerung taucht situativ etwas auf, was unmittelbar davor so nicht bewusst war.

2. Vergessen und Erinnern sind füreinander wechselseitig konstitutiv.

Zu unterschiedlichen Gelegenheiten können Erinnerungen an das gleiche Erlebnis auftauchen und sich doch unterscheiden. Nach jedem aktuellen Erleben beginnt die Erinnerung daran zu verblassen (fading). Neue Einflüsse können die bisherige Erinnerung beeinflussen. So wird Wichtiges von Unwichtigem nach Kriterien unterschieden, die selbst veränderlich sind. Sich an alles zu erinnern ist unmöglich. Auch die Erinnerung setzt Selektion voraus.

Es gibt Ereignisse, die endgültig nicht mehr aus dem Gedächtnis aufrufbar sind. Es gibt solche, die zwar gespeichert bleiben, aber erst durch bestimmte Anlässe erinnert werden. In Anlehnung an Sigmund Freud ließen sie sich als „vorbewusst“, also aktualisierbar bezeichnen. Sie wären dann vom „Unbewussten“ zu unterscheiden, also Erlebnissen,die aktiv aus der bewussten Erinnerung „verdrängt“ werden und sich allenfalls symbolisch, wenngleich einflussreich zeigen.

Der Begriff der „Verdrängung“ wird dort bedeutsam, wo Aspekte der kollektiven Erinnerung zu bedenken sind. Kollektiv zuzuschreibende Verbrechen oder andere diskreditierende, potentiell peinliche kollektive Phänomene werden tendenziell aus der kollektiven Erinnerung verbannt. In intergenerationalen Beziehungen kann dieser Mechanismus ein hohes Konfliktpotential beinhalten (Hamburger, 2022). Während die eine Seite sich bemüht, die verdrängten Phänomene in moralisch erforderliche Erinnerungen zu überführen, zielt die andere auf das endgültige Vergessen, im alten strategischen Sinne einer „damnatio memoriae<“ (Schneider 2021, 11-52).

3. Erinnerungen und ihre Kommunikation sind, je nach ihren normierenden Kontexten, selektiv. Ihre bildliche Vermittlung setzt Sichtbarkeit voraus.

Situative Interaktionen und deren Normierungen beeinflussen, woran und wie sich eine Person erinnert – aber auch, was und wie sie Erinnerungen anderen vermittelt. So wie Erinnerungen zensiert oder betont werden können, unterliegen sie in der medialen Weitergabe an andere einer zusätzlichen Zensur: Was die situativ mitgedachte soziale Umwelt billigt oder verurteilt, bestimmt, ob und wie bestimmte Erinnerungen anderen zugänglich werden (sollen).

Dabei ist Sprache nicht das einzige Medium, mittels dessen Erinnerungen anderen mitgeteilt und von diesen aufgegriffen werden. Bilder waren und sind bedeutsam für deren Vermittlung, technische Entwicklungen habe diese enorm beschleunigt.

Die bildliche Vermittlung von Erinnerungen setzt Sichtbarkeit voraus: Nur das, was (auch vorsprachlich) kommunizierbar ist, kann anschlussfähig sein. Aber auch die Kommunikation über absichtlich verborgene Bilder kann gesellschaftlich bedeutsam werden: Indem das Unsichtbare zwar bildlich kontextualisiert und/oder begrifflich erfasst, aber nicht oder nur exklusiv gezeigt wird, lässt die Kommunikation Raum für die eigene potenziell folgenreiche Imagination in Erinnerungsdiskursen.

4. In die Kommunikation von Erinnerungen werden zunehmend öffentlich und privat zirkulierende Bilder einbezogen. Sie wirken auf individuelle Erinnerungsbilder zurück.

Erinnerungsbilder entstehen in der äußeren Wahrnehmung. Materielles Substrat der Erinnerung und ihrer Mitteilung sind die Körper (vgl. Heinlein & Dimbath, u.a. 2015; Kanter, 2015). Die körperliche Fähigkeit, Erinnerungsbilder zu speichern und zu verändern, ermöglicht „innen“ und „außen“ zu unterscheiden. Zur heutigen „äußeren“ Welt gehören auch künstlich, etwa digital, hergestellte Bilder. Gerade sie zirkulieren zunehmend massenhaft. Das Bewusstsein, dass sie verfertigt wurden, hebt nicht auf, dass sie authentisch wirken. Sie können damit auch kontrafaktisch Aussagen be- oder widerlegen oder das Spiel mit Fiktionen bereichern.

Was als „inneres Bild“ erinnert wird, beeinflusst die Wahrnehmung der äußeren Welt und die entsprechende Kommunikation. Wie äußere Wahrnehmungen und vorgängige Erinnerungen einander durchdringen, wie sich innere und äußere Bilder (wechselseitig) transformieren, ist Gegenstand empirischen Fragens (Wulf, 2014, S. 26f.).

5. Erfahrungsbasierte Begriffe und Bilder können in der Kommunikation miteinander sowie mit weiteren Erinnerungen verknüpft werden und sich wechselseitig präzisieren.

Das Verstehen von kommunizierten Erinnerungsbildern setzt erfahrungsbasierte Begriffe voraus. Die eigenen Mitteilungen werden durch andere aufgenommen und von ihnen unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen verständlich gemacht und inkorporiert. Wer an einem Kommunikationsprozess sehend, hörend, taktil oder sonst wie teilnimmt, wird die Mitteilungen anderer einschließlich ihrer sinnlichen Präsentation auf seine selbsterinnerten Erfahrungen beziehen. Wie in allen Kommunikationen kann es hier zu Missverständnissen kommen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das Verhältnis von Begriffen und Bildern. Schon Kant hat darauf verwiesen, dass Begriffe ohne Anschauung leer und Anschauung ohne Begriffe blind seien (Rothacker 1956/57). Bestimmte Begriffe verbinden sich mit früheren Anschauungen und werden erst dann „verstanden“, wenn sie die entsprechenden Verknüpfungen mitaktualisieren. Der Sinn von Geschriebenem oder Gesprochenem erschließt sich, indem der wahrnehmende Blick von Wort zu Wort geht und sich dabei auf die grammatischen Verknüpfungen und Sinnkontexte stützt. Bilder hingegen präsentieren sich der Wahrnehmung zunächst als Ganzes, werden dann aber, indem der Blick über das Bild wandert, Stück für Stück präzisiert – ein peripatetisches Vorgehen, währenddessen sich auch der wahrgenommene Sinn des ganzen Bildes verschieben und präzisieren kann.

Dabei können Bilder wie auch Begriffe vieldeutig bleiben. Meist sind zahleiche andere – möglicherweise synästhetische – Verknüpfungen möglich, die die Bedeutung weiter verschieben.

6. Insbesondere Medienikonen tragen zur gesellschaftlichen Kommunikation und zur Transformation von Erinnerungen bei.

Vor allem fotografische Medienikonen verbinden sich implizit mit der Behauptung von Authentizität: Sie verfügen auch dann über ein hohes Affizierungspotential, wenn es sich um bewusste Fälschungen handelt: Auch sie werden in die kollektiven Erinnerungen eingespeist und transformieren sie. In bestimmten sozialen Einheiten scheinen sie unmittelbar überzeugend zu sein – aber selbst dort setzt ihr Verstehen erfahrungsgesättigte Begriffe voraus. Mittels Medienikonen wird die wahrgenommene soziale Realität – intentional oder nicht – mitgestaltet.

7. Hegemoniale Bilder und Begriffe eröffnen als Elemente von Erinnerungsbeständen kollektives Handeln und kollektive Unterwerfung.

Bilder und Begriffe wirken nicht nur vereinheitlichend, sie speisen auch gesellschaftliche Kämpfe um Anerkennung und Macht. Auf sie stützt sich das Bemühen, eigene Deutungen gegen Widerstreben und unterstelltes Unverständnis als einzig legitim durchzusetzen. Ihre Durchsetzung ist umso erfolgreicher, je mehr sie die individuellen Erfahrungen und damit die entsprechenden Überzeugungen prägen. Antonio Gramsci baute darauf seinen politisch tragenden Begriff der „Hegemonie“ auf (Leggewie, 1987). Ihm zufolge besteht Hegemonie darin, dass die Unterdrückten die begrifflichen und ikonischen Arsenale ihrer Unterdrücker übernehmen. Auf diese Weise „verinnerlichen“ sie gleichsam ihre eigene Unterwerfung (Stölting, 1987). Das könne erklären, warum Unterdrückte ihre Unterdrückung leidenschaftlich unterstützen.

Über soziale Kommunikation können soziale Einheiten also einander wahrnehmen, aber auch verkennen. Manche der in Begriffen und Bildern sozial fixierten Wahrnehmungsformen sind so kurzlebig wie die sozialen Einheiten, denen sie zuzurechnen sind. Andere können sich stabilisieren und langfristig tradiert werden, vor allem dann, wenn sie ihre Unterschiede durch feindliche Zuschreibungen stabilisieren können.

 

8. Vor allem in gesellschaftlichen Umbrüchen zeigen sich konfligierende affektive Bezugnahmen auf hegemoniale Bilder und Begriffe.

Gesellschaftliche Umbrüche verändern nicht nur Gesellschaften, sondern involvieren beteiligte Einzelne auch emotional und scheiden ihre Erfahrungen in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ (vgl. Dreke et al., 2022). Die lebensweltlichen Erinnerungen an das Vorher können sich damit ebenso verändern wie auf eine Zukunft gerichtete Erwartungen.

Im Zusammenhang damit werden die Umbrüche selbst in spezifischer Weise erinnert. Dafür erweisen sich mit Narrationen verschränkte Bilder als besonders relevant.
Zugleich erscheinen gesellschaftliche, politische und visuell-kulturelle Umbrüche als miteinander verschränkt (vgl. Führer/
Weixler 2022, S. 9 f.).

Die in Umbrüchen aus spezifischen Hoffnungen oder Befürchtungen heraus entstandenen neuen Erinnerungs- und Zukunftsbilder unterscheiden sich nach den sozialen Einheiten, die sie hervorbringen. Den jeweils hegemonial gewordenen Bildern und Begriffen entsprechen sie dabei mehr oder weniger (vgl. Dreke 2022) .Die Auseinandersetzung um die Erinnerung ist insofern eine um die wirkmächtigsten Bilder.

LITERATUR

  • Bosch, A. (2022). Differenz und Einheit der Sinne. Leibliche Kommunikation und Interakti- onstheorie. In A. Bosch, J. Fischer, & R. Gugutzer (Hrsg.), Körper – Leib – Sozialität (S. 241– 276). Springer VS

    Literaturquelle
  • Dreke, Claudia (2022): Imaginationen von Volk, Staat und Nation: DDR-Schülerzeichnungen aus der Umbruchszeit von 1989/90. In C. Dreke & B. Hungerland (Hrsg.), Kindheit in gesellschaftlichen Umbrüchen (S. 75–101). Beltz Juventa.

  • Dreke, C., Hungerland, B., & Stölting, E. (2022). Einleitung: Kindheitsmuster und die Erfah- rung gesellschaftlicher Umbrüche. In C. Dreke & B. Hungerland (Hrsg.), Kindheit in gesellschaftlichen Umbrüchen (S. 9–40). Beltz Juventa.

  • Führer, Carolin; Weixler, Antonius (2022): Umbruch – Bild – Erinnerung. Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten, in: dies. (Hrsg.): Umbruch – Bild – Erinnerung. V&R unipress: Göttingen, S. 9-24.

  • Hamburger, A. (2022). Soziales Trauma – ein Brückenkonzept. In A. Hamburger, C. Han- cheva, & V. Volkan (Hrsg.), Soziales Trauma. Ein interdisziplinäres Lehrbuch (S. 3–17). Sprin- ger VS.

    Literaturquelle
  • Heinlein, M., Dimbath, O., Schindler, L., & Wehling, P. (Hrsg.). (2022). Der Körper als soziales Gedächtnis. Springer VS.

  • Kanter, H. (2015). Das Körpergedächtnis und die Rahmung von Bildern – Zur Gestaltung von öffentlichen Fotografien als Akte der Erinnerung. In M. Heinlein, O. Dimbath, L. Schindler, & P. Wehling (Hrsg.), Der Körper als soziales Gedächtnis (S. 113–134). Springer VS.

    Literaturquelle
  • Leggewie, C. (1987). Kulturelle Hegemonie — Gramsci und die Folgen. Leviathan, 15(2), 285–304

    Literaturquelle
  • Rothacker, Erich (1956/57). „Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. Kant-Studien 48, 161 – 184).

    Literaturquelle
  • Schneider, Gerald (2021). Vergessen, Verändern, Verschweigen. Damnatio memoriae im frühen Mittelalter. Böhlau.

  • Stölting, E. (1987). Armer Gramsci. Über Hegemonie, Kultur und politische Gegenwartsstra- tegien. Leviathan, 15(2), 266–284.

  • Wulf, C. (2014). Bilder des Menschen: Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur. Transcript.

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Hochschule Magdeburg-Stendal
Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften
Prof. Dr. Claudia Dreke
Osterburger Straße 25
39576 Stendal

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