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Affizierung


Affizierung durch Bilder als Potential sozialer Transformation

In den letzten Jahren wurden im Bereich der Medienwissenschaft eine Reihe von Konzepten als operative Kategorien vorgeschlagen, um die sich rasch verändernde Landschaft der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Medienprodukten zu erfassen. Affekt scheint das jüngste Konzept zu sein, aber um seine Bedeutung für die zeitgenössische Medienforschung zu verstehen, müssen wir zunächst erfahren, wie das Feld an diesen Punkt gelangt ist.

Im Jahr 2004 argumentierte Couldry (S. 119), dass eine Praxiswende in der Medienwissenschaft erforderlich sei, um zu untersuchen, was Menschen „in relation to media across a whole range of situations and contexts“ tun. Dieses neue Paradigma der Medienforschung würde es den Forscher:innen ermöglichen, über die vergeblichen Versuche hinauszugehen, Beweise für kausale Zusammenhänge zwischen Medienkonsum und kognitiven und moralischen Veränderungen beim Publikum zu finden; anzuerkennen, dass die Analyse der institutionellen Struktur, die Medien produziert, nicht über die Bedeutung von Medienprodukten entscheiden kann, wenn sie in den Alltag eingefügt werden; und die Einschränkungen in Bezug auf Breite und Tiefe der Untersuchung anzuerkennen, die sich aus einem medienanalytischen Ansatz ergeben, der den Text als primären Ausgangspunkt der Beziehungen der Menschen zu den Medien betrachtet. Die Medienpraxis versteht den Medienkonsum über einen passiven Akt der Rezeption hinaus. Tatsächlich gibt es keinen Konsum mehr, sondern ein Engagement, da die Nutzer:innen (anstelle des Publikums) an einem Prozess teilnehmen, der ein breites Spektrum an soziokulturellen Praktiken umfasst.

Wie Mark Hobart (2010) aufgezeigt hat, ist es nicht unproblematisch, Medien als eine Reihe von Praktiken zu betrachten. Er weist auf drei große Herausforderungen hin: wie man die Praktiken anderer Menschen verstehen, sie interpretieren und die Bedeutung der Praktiken für die Teilnehmenden einschätzen kann. Es ist jedoch möglich, diese Herausforderungen methodisch zu bewältigen, wie mehrere Wissenschaftler:innen gezeigt haben (Prieto-Blanco, 2016; Schreiber, 2017; Flasche, 2021; Kannengießer, 2022). Bei Untersuchungen, die sich auf Medienpraktiken konzentrieren, geht es um einen Sinn – ein Gefühl –, das persönlich und intersubjektiv sowie spezifisch ist und in ständiger Wechselwirkung mit den technologischen Bedingungen steht, unter denen es entsteht. Da was Praxis ist darauf basiert „who we are describing and when“ (Couldry, 2004, S. 125), müssen Medienpraktiken „alongside other everyday practices and within social processes“ (Moores, 2012, S. 11) erforscht werden. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und ‚wo‘, also den Ort, hinzufügen. Die Nutzung von Mobiltelefonen ist sicherlich ein konkretes Beispiel dafür, wie sich sozial‐materielle Bedingungen auf die Entstehung von Orten auswirken. Sie hat lebhafte Debatten darüber ausgelöst, inwiefern es angemessen ist, private Angelegenheiten im öffentlichen Raum zu diskutieren (Chalfen, 2012) oder welche zusätzliche audiovisuelle Kontamination von tragbaren mediengestützten Geräten ausgeht. Dabei greife ich auf McLuhans Konzept der Erweiterung des Menschen zurück, um zu betonen, wie das Medium selbst, unabhängig von seinem Inhalt, neue Formen alltäglicher sozialer Interaktionen beeinflusst.

Hepp (2013) argumentiert, dass die materielle Dimension von Medien, also Technologien, Schnittstellen und Infrastrukturen, eine Stabilisierung und ein Machtungleichgewicht bewirken, da sie für die Durchführung medialer Kommunikation notwendig sind. Durch die Unterstützung der gleichzeitigen und wechselseitigen Teilhabe führen zeitgenössische Medienpraktiken zu affektiven und digital vermittelten Alltagserfahrungen. Man könnte sogar von Medien der Affizierung sprechen. Döveling, Harju und Sommer (2018) sprechen über Emotionen als kulturelle Praktiken, die mit dem Internet (insbesondere den sozialen Medien) verbunden sind sowie darüber, dass ein gängiger Weg, kulturelle Zugehörigkeit zu schaffen und zu erhalten heutzutage die emotionale Resonanz ist. Sie erklären, wie wir in digitale Affektkulturen eintauchen, in denen Emotionen „cultural products governed by implicit norms of what and how we should feel and how we should express [ourselves] […] in any given scenario“ (ebd., 2018, S. 2) sind. Emotionen sind also kollektive kulturelle Praktiken, die auf Macht reagieren und in den Momenten des Teilens aktiviert werden. Affekt ist also ein kollektives und normatives kulturelles Konstrukt, das Emotionen umrahmt, und das, wenn es online vermittelt wird, a) traditionelle räumlich-zeitliche Kontexte auslöscht, b) die Dichotomie wahr/falsch aufhebt und c) Fakten durch geteilte Emotionen ersetzt. In ihren Worten ist Affekt „shaped by communication while at the same time influencing our communicative action“ (ebd., S. 3). Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie Onlinepublika/Öffentlichkeiten auf Grundlage von Emotionen und nicht von Fakten zusammenkommen oder sich auflösen. Digitale Artefakte wie Bilder, die unter einem Hashtag geteilt werden, laden zur Gemeinschaftung ein, definieren die ideologische Landschaft eines konkreten Publikums/einer Öffentlichkeit und fördern individuelles und kollektives Handeln (Prieto-Blanco, García-Mingo Prieto-Blanco, Díaz Fernández, 2022).

Was bedeutet das für die Erforschung von Bildern? Nun, wir beobachten, wie sich das Feld von der Betrachtung von Bildern als Repräsentationen hin zum Verständnis von Bildern als sensorische Erfahrungen entwickelt, die Emotionen mobilisieren und dazu beitragen, persönliche Interpellationen in politische und wirtschaftliche Interessen zu verwandeln (Prieto-Blanco, 2018; Mühlhoff et al., 2019). Insbesondere setzen Fotografien affektive Prozesse in Gang, vor allem wenn sie in alltägliche Praktiken eingebettet sind. Wir wissen, dass Fotografien, wie andere biografische Objekte (z.B. Erbstücke), Emotionen einfangen und die Weitergabe von Erinnerungen und Traumata zwischen den Generationen erleichtern. Wir wissen, dass Fotografien uns durchdringen, verwunden, mit lyrischer Ausdruckskraft kommunizieren und uns über Zeit und Raum hinweg verbinden. Dementsprechend müssen sich die Forschungsorte von abgegrenzten Texten zu räumlichen und verkörperten Prozessen bewegen, in denen die Rolle der Forscher:innen berücksichtigt werden muss (Prieto-Blanco, 2021). Dies erfordert einen holistischen Forschungsansatz, der nur durch eine Verbundenheit zur Forschung (Hennion, 2012, S. 8) erreicht werden kann, möglicherweise durch die Betrachtung von Medien als Praxis und den Einsatz ganzheitlicher Methoden wie die Ethnographie (Prieto-Blanco, 2016) und die narrative Untersuchung (Bach, 2007; Squire, 1995). Und schließlich werden Bilder als verortete Artefakte verstanden, deren Handhabung (Produktion, Verbreitung, Speicherung) emotionale Reaktionen auslöst. Daher muss die visuelle Untersuchung durch Emotionsarbeit (Campt, 2019, S. 80) erfolgen, indem wir uns dem Prozess hingeben. Eine solche Herangehensweise an die visuelle Analyse, insbesondere an die Fotografie, bedeutet, sie als affektive Handlung zu verstehen, als verkörperte und verbalisierte Gefühle, Emotionen und Gedanken, die durch eine Begegnung ausgelöst werden.

LITERATUR

  • Bach, H. (2007). Composing a Visual Narrative Inquiry. In D. J. Clandinin (Hrsg.), Handbook of Narrative Inquiry: Mapping a Methodology (S. 280–307). SAGE Publications, Inc.

  • Campt, T. M. (2019). Black visuality and the practice of refusal. Women & Performance: A journal of feminist theory, 29(1), 79-97.

  • Chalfen, R. (2012). Photo Gaffes: Family Snapshots and Social Dilemmas. Dogear Publishing.

  • Couldry, N. (2004). Theorising media as practice. Social Semiotics, 14(2), 115-132.

  • Döveling, K., Harju, A. A., & Sommer, D. (2018). From Mediatized Emotion to Digital Affect Cultures: New Technologies and Global Flows of Emotion. Social Media + Society, 4(1), 1-11.

  • Flasche, V. (2021). Powerful Entanglements: Interrelationships between platform architectures and young people’s performance of self in social media. In P. Bettinger (Ed.), Educational Perspectives on Mediality and Subjectivation. Discourse, Power and Analysis (S. 87-107). Palgrave Macmillian.

  • Hennion, A. (2012). Attachments: A Pragmatist View of What Holds Us. The First European Pragmatism Conference, 1–10.

    Literaturquelle
  • Hepp, A. (2013). The communicative figurations of mediatized worlds: Mediatization research in times of the 'mediation of everything'. European Journal of Communication, 28(6), 615‐629.

  • Hobart, M. (2010). What do we mean by “media practices”? In E. B. Bräuchler & J. Postill (Hrsg.), Theorising Media and Practice (S. 55– 75). Berghahn.

  • Kannengießer, S. (2022). Medienpraktiken für eine nachhaltige Gesellschaft und das „gute Leben“ erforschen. In S. Kannengießer (Ed.), Digitale Medien und Nachhaltigkeit. Medien. Kultur. Kommunikation (S. 79-130). Springer VS. DOI:

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  • Moores, S. (2012). Media, Place and Mobility. Palgrave MacMillan.

  • Mühlhoff, R., Breljak, A. & Slaby, J. (Hrsg.). (2019). Affekt-Macht-Netz. Transcript.

  • Prieto-Blanco, P. (2016). (Digital) Photography, experience and space in transnational families: A case study of Spanish-Irish families living in Ireland. In E. Gomez-Cruz and A. Lehmuskallio (Hrsg.), Digital Photography and Everyday Life (S. 122-140). Routledge.

  • Prieto-Blanco, P. (2018). Visual mediations, affordances and social capital. Membrana, 3(1), 76–80.

  • Prieto-Blanco, P. (2021). Afterword: Visual Research in Migration. (In)Visibilities, Participation, Discourses. In K. Nikielska-Sekula and A. Desille (Hrsg.), Visual Methods in Migration Studies: New Possibilities, Theoretical Implications, and Ethical Questions (S. 327-343). Springer.

  • Prieto-Blanco, P., García-Mingo, E., & Díaz Fernández, S. (2022). Thick Description and Embodied Analysis of Digital Visual Artefacts: The Visual Repertoire of #SisterIDoBelieveYou. VISTA Revista de Cultural Visual, 6(10), 1-26. DOI:

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  • Schreiber, M. (2017). Audiences, Aesthetics and Affordances: Analysing Practices of Visual Communication on Social Media. Digital Culture & Society, 3(2), 143- 163. DOI:

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  • Squire, C. (1995). From experience‐centered to socioculturally‐oriented approaches to narrative. In M. Andrews, C. Squire, & M. Tamboukou (Hrsg.), Doing narrative research (S. 47–71). SAGE Publications.

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