Erkenntnistheoretisch kommen Forschende zu neuem Wissen, wenn sie eine Unterscheidung einführen, die begrifflich an das bestehende Wissen anschlussfähig ist. Das begrifflich neu gefasste Wissen fügt sich entweder a) in die Ordnung des bewährten Wissens ein oder b) ordnet es auf eine andere, neue Weise. In der Wissenschaft bringen nach Thomas S. Kuhn (1976) Forschende dieses Neue auf zwei Wegen hervor. Bei der ersten Vorgehensweise setzen sie auf bewährte Theorien, Methoden, empirische Belege und erweitern innerhalb eines Paradigmas schrittweise den bestehenden Wissensbestand, um Theorien zu festigen und anerkannte Probleme als auch Rätsel zu lösen. Auf dem zweiten Weg erfolgen Perspektivwechsel sprunghaft und führen dazu, dass Forschende einen Gegenstand neu begreifen und dessen Erforschung anders angehen. Er schreibt, dass einer solchen grundlegenden Veränderung zumeist eine Krise vorausgeht, wenn sich Anomalien häufen und Forschende an die Grenzen kommen, Phänomene und Zusammenhänge mit den existierenden Theorien, Begriffen und Methoden zu verstehen und zu erklären. Diese Umstände schaffen schließlich die Voraussetzungen, dass zuvor weniger diskutierte Ansätze im Forschungsfeld ebenso wie Vorgehensweisen in anderen Fachdisziplinen stärker Beachtung finden und schließlich den Weg für einen Paradigmenwechsel bereiten.
Charakteristisch für Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Wissensgenerierung ist, dass er bei Perspektivverschiebungen vor allem Gespräche mit anderen Forschenden und Auseinandersetzungen mit anderen Herangehensweisen im Blick hat. Dieser Austausch ermöglicht, Konzepte und Begriffe aus anderen Forschungsfeldern zu entlehnen und zu übertragen. Bei ihm entsteht dadurch jedoch leicht der Eindruck, dass sprachliche Übertragungen in erster Linie einen Wechsel der Perspektiven vorantreiben. Weniger Beachtung finden hingegen Bildlichkeiten, obwohl Bildliches durchaus transformativ in der Forschung wirken kann.
Transformativen Bildlichkeiten liegt die Annahme zugrunde, dass der Wechsel von wissenschaftlichen Perspektiven nicht nur mit einer Verschiebung des Begriffsnetzes (Kuhn, 1976) einhergeht, sondern teilweise auf begrifflich (noch) nicht fixierte bildliche Formen und Gestalten zurückgeführt werden kann. Also etwas grundsätzlich Verschiedenes von Sprache, dessen Sinn zunächst vorbegrifflich zugänglich ist und Bezüge herstellt (Boehm, 2007). Wobei natürlich jene Bildbedeutungen als begrifflich kommunizierbar gelten können, die Betrachtende im Bildlichen wiedererkennen und bezeichnen (Imdahl, 1996). Dazu deuten sie die visuellen Elemente eines Bildes durch Rückgriff auf gesellschaftlich geteiltes Wissen von institutionalisierten Zeichen und Symbole (z.B. religiöse Darstellungen, Piktogramme, Hinweiszeichen). Unabhängig davon wird aber auch durch die flächige und relationale Komposition visueller Elemente in einem Bild Sinnhaftes bildspezifisch erzeugt. Beispielsweise verändert sich der Sinn institutionalisierter Zeichen und Symbole in einem Bild je nach Position, Größe oder Relation zu anderen visuellen Elementen. Anders formuliert: Der formal bildliche Aufbau strukturiert die Deutungsmöglichkeiten für die Betrachtenden mit.
Auf die Praxis der Forschung angewendet kann ein wissenschaftliches Problem einerseits bildlich durch die Übertragung wiedererkannter Bedeutungen bearbeitet werden. Andererseits kann Bildliches transformativ wirken, weil die formale Komposition und Gestalt Sinn miterzeugen. Dadurch besteht auf einer vorbegrifflichen Ebene des Bildsinns die Möglichkeit, ein wissenschaftliches Problem in einer anderen Gestalt zu sehen, zu begreifen und schließlich in einer neuen Sichtweise zu verbalisieren. Das Spezifische des Bildlichen kann demnach eine neue Sichtweise ermöglichen, wo bisher keine Begriffe, Formeln und Modelle für die Lösung eines wissenschaftlichen Rätsels verfügbar waren. Als Prozess betrachtet können vorbegriffliche bildliche Formen eine Lösung bieten, welche als (visuelles) Modell sprachlich eindeutig bezeichnet, letztendlich an Kommunikation in Begriffen, Konzepten und Theorien anschlussfähig wird und in einem Forschungsfeld einen Perspektivwechsel einleiten kann.
Der transformative Moment liegt somit zwar in der Übertragung des Sinnhaften von Bild zu Bild, eine Perspektivverschiebung in der Wissenschaft setzt jedoch erst mit einer begrifflichen Übersetzung des Bildsinns in ein wissenschaftlich eindeutig kommunizierbares Modell ein. Diesen Umstand stellt auch die Wissenschaftsforschung im Verhältnis von Visualisierung und Erkenntnis heraus. Es sind in erster Linie Modelle, einschließlich visueller, die anderen einschlägig kompetenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen, neue Sichtweisen zu verstehen (Sachs-Hombach, 2012). Sie können dann auf diesen Sichtweisen aufbauend ihre eigene künftige Forschung neu justieren.
Ein historisches Beispiel transformativer Bildlichkeit ist August Kekulés Entdeckung des Benzolrings im 19. Jahrhundert (Rocke, 1992). In der Mitte dieses Jahrhunderts suchten Forschende wie Kekulé nach einer formalen Schreibweise (Notation), um die Struktur von Benzol zu beschreiben. In diesem Zusammenhang berichtete er von einem Tagtraum, in dem sich das Darstellungsproblem durch ein anderes Bild auflöste. Er schilderte, wie ihm das Bild wirbelnder Atome erschien, die sich zu einem Kreis geschlossen hätten. In der bildlichen Anordnung der Atome in Gestalt eines Ringes erkannte er schließlich eine Struktur, die er bildlich auf die ihm bereits bekannten Eigenheiten von Benzol übertrug. Die Perspektivverschiebung beruhte demnach auf der vorbegrifflichen Übertragung eines Bildes (Ringform). Für die transformative Bildlichkeit ist also entscheidend, dass die Übertragung von Bild zu Bild erfolgte. Er sah im Bildlichen eine Struktur und übertrug sie auf den eigenen Problemgegenstand, wobei das transformative Moment des Bildlichen bei der Übersetzung in wissenschaftlich anschlussfähige Begriffe, Formeln und Modelle verdeckt wurde. Ihm gelang dadurch im Besonderen die chemische Verbindung Benzol strukturell zu begreifen und zu erklären. Seine strukturelle Darstellungsweise veränderte aber auch grundsätzlich die Art und Weise in der Chemie mit Strukturformeln Verbindungen zu betrachten und zu notieren.
Der Verweis auf die Bedeutung transformativer Bildlichkeiten für grundlegende wissenschaftliche Durchbrüche fügt der Wissenschaftsforschung eine weitere Facette und damit ein bislang kaum untersuchtes Forschungsfeld hinzu. Vertiefende Auseinandersetzungen mit vorbegrifflichen Anschauungen bieten die Chance, grundlegende Neuausrichtungen in der Wissenschaft bildspezifisch zu verstehen. Ausgehend vom Unterschied des Bildsinns zum nur verbal erzeugten Sinn ist beispielsweise zu fragen, wie das Spezifische eines Bildes Sinnanschlüsse mitstrukturiert und welche Sichtweise wie versprachlicht wird. Auf diese Weise lässt sich klären, ob und wie die Spezifik eines Bildes eine bestimmte Perspektive prägt. Solche Strukturierungsweisen wären zudem ein weiterer Beleg dafür, dass bahnbrechende Forschung zu einem gewichtigen Anteil zufällig und vorprädikativ ist. Neue Einsichten und Erkenntnisse sind also nicht notwendigerweise an bewährte Regeln und Prinzipien wissenschaftlicher Praxis gebunden.
Zugleich ist zu bedenken, dass nur wenig darüber bekannt ist, welchen Anteil transformative Bildlichkeiten an wissenschaftlichen Perspektivwechseln haben. Es gibt zwar Hinweise, dass Bildliches einen gewichtigen Beitrag zur Lösung wissenschaftlicher Rätsel liefern kann. Es bleibt aber unklar, in welchem Umfang und in welchen Zusammenhängen. Es bedarf daher weiterer Forschung, um zu verstehen, welche Rolle das Bildliche prinzipiell in wissenschaftlichen Perspektivverschiebungen einnimmt.
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit transformativen Bildlichkeiten in der Wissenschaft finden Sie hier.
LITERATUR
Philipps, Axel (2024): Transformative Bildlichkeiten in der Wissenschaft. Überlegungen zu bildinduzierten Perspektivverschiebungen. IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Jg. 20, Nr. 40, S. 244–266.
LiteraturquelleBoehm, G. (2007). Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin University Press.
Imdahl, M. (1996). Giotto, Arenafresken: Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. Brill.
Kuhn, T. S. (1976). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp.
Rocke, A. J. (1992). Kekulé’s Benzene Theory and the Appraisal of Scientific Theories. In A. Donovan, L. Laudan, & R. Laudan (Hrsg.), Scrutinizing Science. Empirical Studies of Scientific Change (S. 145–161). Kluwer.
Sachs-Hombach, K. (2012). Bilder in der Wissenschaft. In D. Liebsch & N. Mößer (Hrsg.), Visualisierung und Erkenntnis: Bildverstehen und Bildverwenden in Natur- und Geisteswissenschaften (S. 31–42). Herbert von Halem Verlag.
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