Seit ihrem Aufkommen hat sich die Fotografie zur Kerntechnologie moderner Bildproduktion entwickelt und milliardenfach werden Fotografien in sozialen Medien geteilt. Neben den Automatismen des technischen Verfahrens, die das Fotografieren immer einfacher machen, gründet dies auch in einer spezifisch medialen Verfasstheit des Mediums als Index und Bild.
Zwar haben heute digitale Messverfahren den photochemischen Aufnahmeprozess weitgehend abgelöst, auch werden sich die Möglichkeiten zur realistischen Bildproduktion durch die künstliche Intelligenz dramatisch erweitern, doch wird Fotografie – zumindest dort, wo sie sich in der Tradition der analogen versteht – weiterhin Indexikalität und Referentialität behaupten. Denn würde sie diesen Anspruch aufgegeben, gäbe es keine Fakes mehr und Täuschungsversuche wären vergeblich.
Beim Fotografieren wird eine rein visuell verfasste Realität hervorgebracht, die optisch zwar der realen Situation ähnelt, die aufgenommen wurde, doch werden die ursprünglichen Realitätsbezüge in diesem Prozess gekappt, neue hergestellt und in Bildlichkeit transformiert. Diese im Foto manifeste Visualität ist nicht nur fotografisch realistisch, sie ist ebenso fotografisch bildhaft. Dieses mediale Spezifikum ist für die Darstellung, Deutung und Hervorbringung des Sozialen außerordentlich bedeutsam und mithin auch für die (bild-)wissenschaftliche Erforschung historischer und aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse.
Im Folgenden soll daher zwischen der fotografischen Realität, die durch das Fotografieren hervorgebracht wird (1) und den fotografischen Bildern, die in diesem Prozess gleichzeitig generiert werden (2), unterschieden werden.
Fotografien reduzieren die Komplexität sozialer Wirklichkeit auf eine quadrierte momentane Ansicht, die sie schlagartig und vollständig nach den jeweils durch Kamera, technische Einstellungen und Objektiv gegebenen optischen Möglichkeiten feststellen, registrieren und fixieren.
Allerdings ist dieser Moment nicht erst durch die Aufnahme selbst, sondern bereits durch die Anmutung des Fotografierens geprägt. Alle Beteiligten – insofern sie sich der Situation bewusst sind – werden dadurch in einen Modus der Bildproduktion versetzt. Die fotografische Situation wird durch deren Interaktionen innerhalb historisch konkreter räumlich-sozialer Gegebenheiten erzeugt. In diesem Zusammenspiel übernehmen in der Regel die Fotograf*innen die Regie über Themen, Motive und Momente der Aufnahme; sie entscheiden in der Regel darüber, was in welchem Ausschnitt/Anschnitt gezeigt wird. Über die Wahl des Standpunktes, technischer Parameter, der Perspektiven, der Abstände (Nähe/Distanz) und ggf. durch direkte Anweisungen und Arrangements haben sie zugleich einen großen Einfluss darauf, wie es im Foto erscheint. Die potentiellen Darsteller*innen verhalten sich in und zur fotografischen Situation körperlich, mimisch-gestisch, was sich in einem weiten Spektrum von Gleichgültigkeit und Verweigerung bis hin zum aktivem Posen und zu gestalteten (Gruppen-)Aufführungen denken lässt. Die fotografische Situation ist also wesentlich performativ.
Die Entscheidungen vor und hinter der Kamera schließen dabei jeweils an innere individuelle und kollektive Bildwelten und Bedürfnisse an, und sie werden mehr oder weniger auch auf imaginierte Adressat*innen und Verwendungen hin getroffen. Sie prägen die visuellen Zusammenhänge der fotografischen Aufnahme ebenso wie das fotografische Bild, das dadurch entsteht.
Dass Fotografien sozialer Situationen trotz dieser auf mehreren Ebenen wirkmächtigen Intentionalität überraschend anders sein können, als die Bildproduzent*innen es sich vorstellten, hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es bildrelevante, auch widersprüchliche Entscheidungen, die von den Beteiligten nicht bewusst getroffen werden, und gerade im Bereich der digitalen Fotografie schreiben sich auch Bildvorstellungen und -konventionen der Hersteller des Aufnahmeapparates über Standardeinstellungen, Grenzwerte und Filter ein. Zum anderen kann das technisch induzierte Verfahren ganz unabhängig von menschlicher Erfahrung und Wahrnehmung neue Ansichten sozialer Situationen hervorbringen. Denn mit dem Bruchteil einer Sekunde, den der Aufnahmemoment zumeist nur misst, unterläuft Fotografie grundsätzlich die Wahrnehmungsschwellen des menschlichen Sehapparates. Zugleich übersteigen Präzision und Vollständigkeit, mit der die sichtbaren Anteile der fotografischen Situation erfasst und fixiert werden, die Möglichkeiten selektiver menschlicher Wahrnehmung. So wird im Foto (auch) manifest, was die an einer Aufnahme Beteiligten weder sahen noch sich vorstellten. Über das Unbewusste, das Zufällige und die technischen Voreinstellungen tragen sich historische, kulturelle, politische und soziale Verhältnisse, in die die fotografische Situation eingebettet war, mit ein.
Beim Fotografieren wird also eine neue, rein visuell verfasste Realität geschaffen, deren Wahrnehmung und Deutung wiederum eigenen Regeln folgt. So erzeugen Ausschnitt- und Momenthaftigkeit der Fotografie ein zeitliches und räumliches Off (Dubois, 1998), das beim Betrachten zu unterschiedlichen Annahmen dessen anregt, was sich möglicherweise innerhalb und außerhalb des Ausschnittes zugetragen haben könnte und was dies in Bezug auf im Kontext behauptete soziale Verhältnisse bedeutet. Darüber hinaus können multisensuelle Affekte hervorgerufen werden (Kanter & Pilarczyk, 2018) und Fotografie kann emotional anrühren.
Realitätsvorstellungen dieser Art stellen in gewisser Weise den Versuch dar, den im Foto fixierten Moment wieder in das zeitlich-räumliche Kontinuum einzufügen, dem er entrissen wurde. Weil jedoch mit der Aufnahme die realistischen Bezüge zur fotografischen Situation unwiederbringlich gekappt wurden, führen diese Imaginationen nicht in die Wirklichkeit der fotografierten Situation (zurück). Diese gehören vielmehr zu einem Wirklichkeitskonstrukt, das durch die individuelle und historisch soziale Erfahrungswelt der Betrachter*innen nach den eigentümlichen Regeln der fotografischen Realität hervorgebracht wird.
Diese Realitätsannahmen sind durch die neuen visuellen Zusammenhänge und Elemente im Fotoausschnitt bestimmt. Der makellos weiße Sandstrand auf dem Werbefoto wird imaginativ erweitert, auch wenn sich in der Realität der Aufnahme links und rechts vom Ausschnitt Müllberge türmten. Ein typisches Beispiel für fotografisch evozierte Realitätsbezüge sind auch Blicke in die Kamera, die auf Fotografien eine außerordentliche Präsenz entfalten können, obwohl sich dieser intensive Eindruck der zeitlichen Dehnung beim Betrachten der Fotografie verdankt. Wenn also der Schnappschuss eines flüchtigen Blicks in die Kamera gar zum Nacherleben dieses Moments und zu einer dialogischen Reflexion über lange Zeiträume hinweg anregt, hat dies mehr mit den Betrachter*innen und deren Situation, Bedürfnissen, Gefühlslagen und Weltverhältnissen zu tun als mit der (historischen) Realität der fotografischen Situation.
Allerdings werden Fotografien für weitere Verwendungen zumeist im Bewusstsein ihrer Wirkung beim Betrachten ausgewählt. Das gilt vornehmlich für alle Arten professioneller Verwendung, doch fällen auch Laien im alltäglichen Gebrauch Auswahlentscheidungen nicht rein zufällig. Hier entscheidet häufig der Zweck und auch blitzschnelle Geschmacksurteile (gefällt – gefällt nicht) werden vor dem Hintergrund des persönlichen Erfahrungshorizontes, des individuellen Habitus (Bourdieu, 1981) und aktueller Bedürfnislagen getroffen.
Diese Deutungen und Imaginationen, zu der die fotografische Realität auffordert, sind allerdings prinzipiell von den Interpretationen, zu der die Bildhaftigkeit von Fotografien anregt, zu unterscheiden.
Während also der Fotoausschnitt durch (Schnitt-)Linien charakterisiert ist, die auf Beziehungen zu einer fotografierten Wirklichkeit außerhalb der Fotografie weisen, fungieren dieselben Linien zugleich als (Bild-)Rahmen. Der schließt das Fotografierte ein und erzeugt eine Entität, die von Strukturen innerhalb dieses Rahmens geprägt ist – gemeint sind Bildkomposition, dominante Linien und Flächen der planimetrischen Anordnung, Licht- und Schattenverhältnisse, Bildmittelpunkt, Fluchtlinien und Fluchtpunkt, auch Farbigkeit. Innerhalb dieses Bildzusammenhanges können sich alle Elemente symbolisch aufladen.
Je nachdem, in welchem Modus eine Fotografie wahrgenommen wird, organisiert sich daher ihre Deutung anders. Das Foto als Index referiert auf eine (imaginierte) Realität und auf populäre visuelle Formulierungen realistischer Situationen. Das Foto als Bild bezieht sich hingegen auf andere Bilder (Gemälde, Zeichnungen, Film- und Video-Szenen eingeschlossen), auf lange kulturelle Bildtraditionen (Belting, 2001) und individuelle bildhafte Assoziationen.
Die Eigenlogik des Fotografischen, das gleichermaßen zur Realitätskonstruktion wie zur Bildinterpretation einlädt, begründet den Wert von Fotografien für sozialwissenschaftliche und historische Untersuchungen, der weit über deren Gebrauch als Beleg und Zeugnis hinausgeht. Fotorealistisch betrachtet lassen sich natürlich faktische Gegebenheiten der fotografischen Situation beschreiben und – bei einem Mindestmaß an gesichertem Kontextwissen – historisch einordnen (Pilarczyk, 2017). Doch liegt der eigentliche Wert von Fotografien für die bildwissenschaftliche Arbeit in der transformatorischen und konstruktiven Leistung der Fotografie als Aufnahme und als Bild.
So werden soziale Phänomene und Institutionen – etwa Gemeinschaft, Freundschaft, Familie – durch fotografische Aufnahmen nicht nur registriert und dokumentiert, sondern im Prozess massenhafter Aufnahme und Verwendung hervorgebracht, d.h. visuell formuliert, durch Wiederholung angeeignet und durch Variation weiterentwickelt (Pilarczyk, 2009). In diesem Prozess haben wiederum ikonische Bilder, in denen sich die Bedeutung und Problemlagen sozialer Phänomene und Ereignisse verdichten, eine zentrale Funktion zur Modellierung, Tradierung, Emotionalisierung und Dynamisierung.
In den gestalteten Realitätsbezügen wie auch über ihre Bildlichkeit können Fotografien also Einsichten in die historische Erfahrungswelt der Bildproduzent*innen und Betrachter*innen, in individuelle und kollektive kulturelle Sichtweisen, in Mentalitäten und Selbstverständnis sozialer Gruppen vermitteln. Vor allem bieten sie einen Zugang zu den medialen Handlungsräumen, in den sich Menschen ihre sozialen Wirklichkeiten schaffen. Daher sind Fotografien vorzügliche Dokumente für die Vorstellungen und Manifestationen von Sichtbarkeit und Normalität in Gesellschaften, für die Legitimierung von Wissen, für nationale, familiäre und institutionelle Traditionsbildung, für die Anschauungen vom Aufwachsen, von Familie, von Jugend, Kindheit und vom Verhältnis der Geschlechter, der Generationen und Kulturen.
LITERATUR
Belting, H. (2001). Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. Wilhelm Fink Verlag.
Bourdieu, P. (1981). Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Europäische Verlagsanstalt.
Dubois, P. (1998). Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam, Dresden.
Kanter, H., & Pilarczyk, U. (2018). The Wasted Youth. Bilder von Jugendlichkeit im 21. Jahrhundert. Zeitschrift für Pädagogik, 64(3), 290–306.
Pilarczyk, U. (2009). Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel. Wallstein.
LiteraturquellePilarczyk, U. (2017). Grundlagen der seriell-ikonografischen Fotoanalyse – Jüdische Jugendfotografie in der Weimarer Zeit. In J. Danyel, G. Paul, & A. Vowinckel (Hrsg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis (S. 75–99). Wallstein.
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