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Sichtbarkeit


Sichtbarkeit als Dimension sozialer Transformation

Zwei gänzlich unterschiedliche Sichtbarkeitsbegriffe existieren im Diskurs über visuelle Phänomene: ein soziologisch-kulturwissenschaftlich inspirierter Begriff, der behandelt, wer wann unter welchen Bedingungen wie sichtbar wird oder unsichtbar bleibt, und ein in philosophischer Tradition stehender, bildphänomenologischer Begriff, der das behandelt, was als Feld zwischen Gegenstand, Abbildung, Wahrnehmung und Imagination im Bild sichtbar wird und Erkennen als visuelles Denken betrifft. Inwieweit beide Begriffe sich mit Gewinn aufeinander beziehen lassen, ist eine Frage dieses Textes, zumal beide den gesellschaftlich-historischen Kontext betonen, was für die Idee einer transformativen Bildlichkeit entscheidend ist.

Vor allem im Kontext kommerziell-ökonomischer Relevanz für Social Media wird aktuell über „Sichtbarmachung“ und „Sichtbarkeitsgestaltung“ diskutiert. Hier stellt sich die Frage, inwieweit wir über solche Sichtbarkeit überhaupt verfügen oder nicht ökonomische Interessen und mediale Eigenlogiken bestimmend sind. Dass in diesem Zusammenhang von Gestaltung und Sichtbarmachung nicht nur Verbreitung oder visuelle Gesetze gelten, sondern auch Fragen von Macht, wird schon im Dispositivbegriff von Foucault diskutiert (vgl. für bildliche Darstellungen Mitterhofer, 2016). Fragen der (Un-)Sichtbarkeit zu fokussieren oder zumindest mitzudenken, bedeutet also auch neben dem konkreten Bild stärker den Kontext und die Praxis des Zeigens in Betracht zu ziehen, also Akteure, Machtverhältnisse, materiale Bedingungen.

Der soziologisch-kulturwissenschaftliche Begriff der Sichtbarkeit und Sichtbarkeitspolitik

Sowohl im anwendungsbezogenen als auch im interpretativen Diskurs über Gebrauch und Wirkung von Social Media taucht der Begriff der Sichtbarkeit auf. Als Beispiele seien einmal Praktiken des Marketings herausgegriffen, in denen es darum geht, Produkte, Botschaften und Personen sichtbar werden zu lassen. Im Grunde waren schon die digitalen sozialen Medien seit schülerVZ, Facebook, im Moment vor allem Instagram und TikTok Sichtbarkeitsmachungsmaschinen. Schreiber (2020, S. 7 & 11) spricht davon, dass es dort gerade um ‚public visibility‘ gehe. Flasche (2022, S. 22) beschreibt, es gehe in den sozialen Medien um die „Bedingung der Sichtbarkeit“. Eine besondere Sichtbarkeit werde dann erzeugt, wenn man die „Sichtbarkeitslogiken“ beherrsche (Flasche & Carnap, 2021, S. 265).

Sigrid Schade und Silke Wenk etablieren Fragen der Sichtbarkeit zentral in ihren „Studien zur visuellen Kultur“, einer transdisziplinären Perspektive, die bildwissenschaftliche (philosophisch-kunsthistorische) Ansätze mit jenen der Cultural Studies zu verbinden sucht, indem sie fragen: „Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben, oder wo ist wem was und wie unsichtbar gemacht?“ (Schade & Wenk, 2011, S. 53). In solcher Repräsentationskritik stellen sich Fragen nach der Regie über Sichtbarkeiten: Wie werden Geschlecht, wie werden soziale Gruppen präsentiert, wie eng oder weit ist aber auch unsere Bildentschlüsselung entwickelt, erkennen wir das, was nicht gezeigt wird oder wie etwas gezeigt, aber eben auch immer kommentiert wird? Gleichzeitig bildet sich unsere Bildinterpretationsfähigkeit am Gezeigten aus. Etwas Einleuchtendes muss eben zuerst sichtbar gemacht werden. Dies ist auch ein Konstruktions- und nicht einfach ein Abbildungsvorgang, was uns aber nicht daran hindert, Gesehenes für evident zu halten. Solcher „Bilderglauben“ (Schade & Wenk, 2011, S. 99) wird allerdings im Zuge der Machbarkeit von Bildern auch durch KI erschüttert. Umso schwerer wiegen „Sichtbarkeitspolitiken“ im Bereich von Propaganda, aber auch von Information. Solche machtbetonten Praktiken der Sichtbarmachung – auch in machtkritischen Sektoren – gilt es auch dann im Auge zu behalten, wenn die grundlegende Frage nach dem Wie gestellt wird, wie dieses sichtbare Feld von Bedeutungen hergestellt, gezeigt und vor allem gesehen wird.

Sichtbarkeit als bildtheoretischer Begriff

Um die Aufmerksamkeit für Nuancen der Bildwirkung (die im Prozess der Bildwerdung, Gestaltung, Bildlichkeit, Medialität und Rezeption entsteht) zu schärfen, lohnt die nähere Betrachtung eines phänomenologischen Bildbegriffs, der – wie auch Karl Mannheim – den Blick auf das Wie – im Sinne der Gestaltung und Wahrnehmung) verschiebt. Das Bild gilt auch hier als künstliche „Generierungstechnik von Sichtbarkeit“. Insofern ist ein Bild Produkt einer „Sichtbarkeitsgestaltung“ (Wiesing, 2000, S. 281f.). Waldenfels (2009, S. 15) unterscheidet zwischen „implikativer, medialer und reflexiver Sichtbarkeit“. In dieser Differenzierung gewinnen wir an Unterscheidung: Während mediale Sichtbarkeit unmittelbar auf das veranschaulichende Bild setzt, wird mit dem Begriff des Impliziten auf den immer mitanwesenden Kontext (historisch wie aktuell) verwiesen und in der Reflexion bezieht sich der Begriff auf den Sehakt, in dem all dies zugleich wahrgenommen wird.

Dass Inhaltsanalysen nicht taugen, den wesentlichen Gehalt und die transformativen Aspekte von Bildlichkeit überhaupt benennen zu können, zeigt sich, wenn man zum Beispiel Fotografien aus einem längeren Zeitraum untersucht; oft ändern sich weder Bildthematiken noch Bildgestaltungen deutlich und trotzdem hat die Entwicklung beispielsweise vom analogen zum digitalen Foto etwas verändert – auch über die Praktiken hinaus – was wir immer mitsehen. Wir nehmen Bilder mit unseren Erfahrungen des Bildersehens wahr. Denn Bilder sind in die „Verflechtungs- und Bedingungsverhältnisse von Kultur und Visualität“ eingebettet (Rimmele & Stiegler, 2012, S. 11; s.a. Mietzner, 2021).

Maurice Merleau-Ponty, Bernhard Waldenfels (2009) und in genauer Auslegung auf das Bildliche bezogen Lambert Wiesing (2000) beschreiben, dass weniger der dargestellte Gegenstand selbst als der „Stil“, in dem dieser gezeigt wird, entscheidend für die Bedeutungen des Gezeigten ist. D.h. die Bedeutungen des Bildlichen erschöpfen sich nicht im Gegenstand und seinen Symboliken, auch nicht allein in den Praktiken und Strukturen. Die Ikonizität des Bildes entfaltet sich in den Durchdringungen dieser Aspekte. Technizität und Medialität, die gezeigten Bildgegenstände, die formalen Präsentationen und Positionierungen sowie leibliche Verfasstheiten und Blickbeziehungen, das Verhältnis von Figur und Grund, Raumgestaltungen usw. machen die Bildkonfiguration aus. Diese umfasst auch die Präsentation des Bildes und die Betrachtenden selbst.

Der Begriff des Sichtbaren steht in der Phänomenologie im Zusammenhang mit dem Unsichtbaren. Es gebe keine Sichtbarkeit ohne das Unsichtbare (Wiesing, 2000, S. 268). „Etwas zeige sich als mehr und als anders, als es ist“ (Waldenfels, 2012, S. 9; kursiv i.O. zitiert nach Scholz, 2021, S. 82). Und Bilder seien geradezu dazu erschaffen, das Unsichtbare sichtbar zu machen – hier läge ihr „Spielraum des Sehens“ (Sternagel, 2014, S. 297).

Sichtbarkeit als Moment von Bewegung

Ein phänomenologischer Begriff der Sichtbarkeit ist nie isoliert auf ein gerahmtes Bild zu verstehen, sondern Sichtbarkeit entsteht im Gestaltetsein des Bildes und im Sichtbarwerden in der Wahrnehmung. Diese Praktiken sind an die Blickregime der Bildsorten gebunden, das bedeutet z.B. Selfies auf Instagram oder Fotografien eines Nachrichtenmediums zu unterscheiden. Die medialen Erscheinungsformen rufen bei den wahrnehmenden Personen unterschiedliche Wahrnehmungsprozesse hervor, die sich mit dem phänomenologischen Begriff der Bewegung genauer fassen lassen. Indem Bilder innere Bilder hervorrufen, sind Blick und Wahrnehmung in ständiger Bewegung. Bei Social Media mit seinen Algorithmen ist gesteuerte Bewegung eindeutiger, aber jede unserer Wahrnehmungen ist bewegt und setzt das Bild in Bewegung. Sichtbarkeit ist nie statisch.

Auch auf der Ebene des Tableaus bei Instagram lassen sich solche Bewegungen vielfältig finden, in der Kombination von Fotografien, Bildern und Schrifttafeln, in der Kombination von Bewegtbild und Still und in der Rhythmisierung, die nicht nur von dem*r Betrachter*in vorgegebenen Mustern folgt.

Um den Begriff der Sichtbarkeit zu verstehen, gilt es ihn in seiner permanenten Bewegung (und damit in Transformation) zu verstehen. Jan Patočka (1991, S. 138) spricht davon, unser Handeln (hier wird Zeigen und Sehen als solches verstanden) sei in eine gesamte Präfiguration, in der Wahrnehmung stattfindet, eingebunden. Sehen und Wahrnehmung sind eine solche Bewegung: Allein, wie wir Bildgegenstände in ihrem Verhältnis zum Bildgrund und untereinander wahrnehmen, basiert auf Blickbewegungen, die wiederum unserem Sehen zugrunde liegen und mit dem, wie wir sehen, unsere Imagination in Bewegung setzen.

Wenn man von Sichtbarkeit als Bewegung spricht, dann ist auch zu vermuten, dass sich der Bedeutungsbegriff im Oszillieren des Bildes selbst wandelt. Der Begriff wird durch Bedeutungsnuancen fluide (Hasse, 2020).

Sichtbarkeit zwischen Ausgrenzung und Öffnung

Von hier aus ist dann auch sinnvoll den soziologischen Begriff der Sichtbarkeit wieder einzubinden, denn er verdeutlicht, wie gesellschaftlich formiert jene Prozesse der Gestaltung und Wahrnehmung des Bildlichen sind und welche bildlichen Dispositive uns beeinflussen.

Denkt man beide Begriffe von Sichtbarkeit zusammen, so klärt der soziologische Begriff uns auch über Facetten der Wahrnehmung auf, denn erst das, wofür auch Begriffe gefunden werden, wird für uns sichtbar. Und umgekehrt: Durch einen phänomenologisch inspirierten Sichtbarkeitsbegriff erahnen wir die Art und Weise, wie uns etwas als was gezeigt wird, etwas, das wir noch nicht in Begriffe fassen können. In dieser Spannung liegt visuelles Denken.

LITERATUR

  • Flasche, V. (2022). Jugendliche Selbstentwürfe an der Social-Media-Schnittstelle Ästhetische Artikulationen Jugendlicher auf und mit Social-Media-Plattformen zwischen 2012 und 2018.

    Literaturquelle
  • Flasche, V., & Carnap, A. (2021). Zwischen Optimierung und ludischen Gegenstrategien: Ästhetische Praktiken von Jugendlichen an der Social Media Schnittstelle.MedienPädagogik, 42(Optimierung), 259–280.

    Literaturquelle
  • Hasse, J. (2020). Photographie und Phänomenologie. Mikrologien räumlichen Erlebens. Band 3. Karl Alber.

  • Mietzner, U. (2021). Interdisziplinäre Bildungsforschung. In D. Kergel, B. Heidkamp-Kergel, & S.-N. August (Hrsg.), Bildungstheoretische Reflexionen des Bildlichen (S. 285–295). Beltz Juventa.

  • Mitter Höfer, H. (2016). Das Repräsentations-Dispositiv: Narration, Gedächtnis und Pathos. Zu den Bildern von 9/11. Wilhelm Fink. Phänomenologische Schriften II (S. 132–143). Klett-Cotta.

  • Patočka, J. (1991). Zur Vorgeschichte der Wissenschaft von der Bewegung: Welt, Erde, Himmel und die Bewegung des menschlichen Lebens (zuerst 1965). In K. Nellen, J. Nemec, & I. Srubar (Hrsg.), Die Bewegung der menschlichen Existenz. Phänomenologische Schriften II (S. 132–143). Klett-Cotta.

  • Rimmele, M. / Stiegler, B. (2012). Visuelle Kulturen/Visual Culture. Zur Einführung. Junius.

  • Schade, S./ Wenk, S.(2011). Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. Transcript.

  • Scholz, S. (2021). Epistemische Bilder: Zur medialen Onto-Epistemologie der Sichtbarmachung. transcript.

    Literaturquelle
  • Schreiber, M. (2020). Digitale Bildpraktiken. Handlungsdimensionen visueller vernetzter Kommunikation. Springer VS.

    Literaturquelle
  • Sternagel, J. (2014). 4. Sichtbarkeit – Sichtbarmachung – Unsichtbarkeit. In S. Günzel & D. Mersch (Hrsg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (S. 297–302). J.B. Metzler.

  • Waldenfels, B. (2009). Das Unsichtbare dieser Welt oder: Was sich dem Blick entzieht. In R. Bernet & A. Kapust (Hrsg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren (S. 11–26). Wilhelm Fink.

  • Wiesing, L. (2000). Merleau-Pontys Phänomenologie des Bildes. In R. Giuliani (Hrsg.), Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften (S. 265–282). Wilhelm Fink

    Literaturquelle

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