Den auf und mit Social-Media-Plattformen hergestellten, zusammengestellten und geteilten Bildern gehen formalästhetische Unterwerfungs- und Ermöglichungsakte voraus (Social Media), die sich – so unsere These – rekonstruieren lassen, wenn Plattform- und Bildanalyse zusammengeführt werden. Wir schlagen hierfür den Begriff der Positionierung als eine Meta-Analysekategorie vor, der die Kompositionsanalyse ergänzt. Die Metaanalyse ermöglicht die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Dimension, die über die Zusammenstellung von Einzelbildern hinausgeht und sich genau darin zeigt. Denn die algorithmische Selektion komputabler Formen und Daten blendet – je nach Plattform – bestimmte Darstellungen gezielt aus- oder ein.
Für die kunstwissenschaftlich orientierte Methodenentwicklung waren Bilder entscheidend, die vor rund 700 bis 500 Jahren gemalt wurden. Ihr liegt eine Vorstellung von Bildlichkeit zugrunde, die von einem einzelnen Bild bzw. von einem Sujet aus entwickelt wurde, dem europäischen Tafelbild (Panofsky 1975, 38; vgl. Kritik dazu Mietzner und Pilarczyk 2005; Müller 2012). Die Fresken von Giotto (siehe Abb. 1) und die Werke Michelangelos und Raffaels, die Imdahl (1980) und Panofsky (1975) zur Ausarbeitung ihrer Methoden inspirierten, sind ursprünglich Teil eines architektonischen und malerischen Gesamtkunstwerkes und stehen narrativ sowie formal in einem Zusammenhang mit den neben, über und unter ihnen angeordneten Bildern. In der Geschichte ihrer Rezeption und Analyse hat sich jedoch das einzelne Bild durchgesetzt (bspw. die Erschaffung Adam in der sixtinsichen Kapelle), das die Komposition mit anderen Bildern höchstens nachträglich in die Analyse miteinbezieht. Auf den ersten Blick stehen die Fresken denen aus dem Instagram-Profil einer Influencerin maximal kontrastiv gegenüber (exemplarisch Abb. 2: Teilansicht Instagram-Profil Kylie Jenner).
Wenngleich sich hier auf den zweiten Blick u.a. die Bildsprache der Renaissance tradiert, ist der für unsere Argumentation entscheidende Moment nicht das einzelne Bild, sondern die mediale Rahmung, die in diesem Fall Instagram bietet. Die mit Social Media Plattformen veröffentlichten Bilder erscheinen stets mit anderen Bildern zusammen, und zwar in der ästhetischen und algorithmisierten Ordnungslogik der jeweiligen Plattform.
Ausschnitt Arena Fresken: Die Gefangennahme Christi
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Stehen Bilder, die im Kontext von Social Media erscheinen und geteilt werden, im Zentrum des Forschungsinteresses, erfordert die algorithmisch angeordnete, von der Plattform gerahmte und personalisierte (also nutzer*innenspezifische) Zusammenschau der Bilder eine Weiterentwicklung der bildwissenschaftlichen Analyse-Kategorien. Entscheidend hierfür sind folgende formale Aspekte:
Auf der Ebene des Interfaces sind die Bilder formal gerahmt, d.h. die Plattform gibt nicht nur das Größenverhältnis vor, sondern trennt die Bilder mit Fenstern oder Rastern voneinander ab. In den aktuell dominierenden Plattform-Interfaces dominieren Feeds die Anzeige, also vertikal geordnete Raster, die für die Praxis des Scrollens mit aufrecht (hochkant) gehaltenen Smartphones optimiert sind. Mit dieser gestisch ausgerichteten Optimierung geht einher, dass nicht das einzelne Bild, sondern die Anordnung mehrerer Bilder nebeneinander oder untereinander die häufigste Ansicht darstellt.
Jedes Bild ist ferner von aufmerksamkeitsökonomischen Informationen über das Bild gerahmt, die Auskunft darüber geben, wie häufig das Bild gesehen, geliked und repostet wurde. Bilder, die bisher viel Aufmerksamkeit erlangt haben, werden algorithmisch bevorzugt, also oben in den Feeds der Follower*innen angezeigt. Das bedeutet, dass auf der Ebene des algorithmisch personalisierten Feeds die Bilder der Social-Media-User*innen, denen gefolgt wird, in einer vorbestimmten Reihenfolge erscheinen. Das einzelne Bild erscheint also immer zu anderen Bildern ins Verhältnis (vor-)gesetzt.
Mit diesen formal-informatorischen Rahmenbestimmungen der Plattformen lassen sich in Bezug auf das klassische Analyseraster drei Herausforderungen für die Interpretation komputabler Bildlichkeit bestimmen:
Screenshot des Instagramprofils von Kylie Jenner
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Erstens ist die Analyse der planimetrischen Komposition im Rahmen von Social Media dadurch herausgefordert, zu bestimmen, was überhaupt das fokussierte Bild ist. Wird der plattformspezifische Rahmen bzw. das Interface der App mit in die Bildanalyse aufgenommen? Werden die aufmerksamkeitsökonomischen Informationen (z.B. Anzahl der Likes) mitinterpretiert? Werden die zusammen gezeigten Bilder als collagierte Gesamtkomposition gefasst? Kompliziert wird der Charakter der Bildlichkeit zusätzlich, als dass häufig Text-Bild-Kompositionen geteilt werden (etwa Memes) und reine Texttafeln sowie Videos Teil des jeweiligen Bild-Tableaus sind (Przyborski, 2018; Langford, 2021).
Zweitens verliert die Bestimmung der Perspektive unter Berücksichtigung der Darstellungsoptionen und Zusatzinformationen, die wie eine zusätzliche Schicht über dem Bild liegen, ihre Aussagekraft oder muss kontextualisiert werden. Denn in der collagierten Gesamtkomposition ist die Perspektive der Bildproduzent*innen, die über die bildlich vermittelte Horizontlinie die Bildrezipient*innen auf bestimmte Weise zum Gezeigten positionieren, nicht mehr eindeutig bestimmbar. Es gibt nicht mehr den einen Standpunkt, keinen Fluchtpunkt, keine Zentralperspektive; entsprechend erscheinen die Plattformbilder flach (bzw. sogar platt?) im Sinne von zweidimensional. Gleichwohl ist es möglich, eine häufig eingenommene Perspektive, eine für einen Account typische Perspektive, zu analysieren (zum Beispiel im Fall “Neo” bei Schreiber (2023), die Detail- und Großaufnahme, der fragmentierte Körper).
Bildinformation in Instagrambildern
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Drittens, setzt die Plattform durch Rahmung und Ranking jedes Bild in Szene, d.h. die Plattform hat die primäre Rahmungsmacht des bildlichen Handelns (der szenischen Choreografie). Über die plattformspezifischen Handlungsaufforderungen – Herz/Like, Repost, Comment – choreografiert die Plattform die Interaktion der Bildbetrachter*innen; der Algorithmus fördert eine affekt-appellative, reaktionsverstärkende Bildbetrachtungsweise: Schau mich (genau so) an, sei entsetzt, finde mich schön, freu dich mit mir, kommentiere mich usw. (David, 2021; Affect). So korrespondiert (oder divergiert) die szenische Choreografie des Einzelbildes mit der szenischen Choreografie der Plattform und beides mit der situativen, milieuspezifischen, differenzbedingten Verhältnissetzung der Bildbetrachter*innen resp. App-Nutzer*innen, ihren vor-positionierten Positionierungsmöglichkeiten (Carnap et al., 2023). Die Positionierung wird innerhalb des Interface-Tableaus in der Wechselwirkung zwischen einzelnem Bild und Gesamttableau, bzw. durch die gescrollte Bilderscheinung mitbestimmt durch die Reaktionen der Betrachter*in/User*in auf die spezifische, ebenfalls hergestellte fotografische Realität (Fotografie).
Das heißt, auf der Analyseebene der szenischen Choreografie kulminieren die bildlich, fotografisch, ästhetisch, algorithmisch organisierten Verhältnissetzungen komputabler Bildlichkeit. Eine Kompositionsanalyse komputabler Bildlichkeit kann demnach bei der szenischen Choreografie ansetzen und – sozusagen von hier aus, in einer zweiten Reflexionsschleife – die formal-informatorischen Rahmenbedingungen (erneut) deuten, mit dem Ziel, die Positionierungsprozesse der dargestellten Szene (etwas mehr) zu verstehen. So konnten etwa die TikTok-Videos von zwei zwölfjährigen Freundinnen u.a. als Antworten auf die vergeschlechtlichten Anforderungen der Erwachsenenwelt gedeutet werden, die in den Videos thematisiert, nachgeahmt und teilweise zurückgewiesen werden (Carnap & Flasche, 2020); es konnten die Spiegel-Selfies von Jugendlichen auf Instagram, die bildungsbiografisch Zurückweisung erfahren haben, als Möglichkeit gedeutet werden, sich gegenseitig als normal und zugehörig anzuerkennen und zu positionieren (Carnap et al., 2023). Eine derart weitreichende soziogenetische Einordnung der Analyseergebnisse erfolgt hier auf Basis der Kombination mehrerer Datensorten (Transkripte, Artefakte, Plattformstruktur).
Das Trans-formative der komputablen Bildlichkeit zeigt sich hier durch die Veränderung und Überschreitung der formalen Kompositionskategorien. Das komponierte Bild, das durch den algorithmisch organisierten Prozess des Scrollens gewandelte Tableau, ist weiterhin ein – auf bestimmte Weise – gemachtes Bild, ein hergestelltes Bild, das Ergebnis eines Prozesses, bei dem (verschiedene) sichtbare Aspekte in ein Verhältnis gesetzt wurden: (com/con (lat.) = zusammen; ponere (lat.) = “stellen, setzten”). Als komponiertes Bild kann es grundsätzlich rekonstruiert werden. Die Hervorhebung der Position im Rekonstruktionsprozess setzt (wie gewohnt) am Herstellungsprozess an (was wurde zusammengesetzt?) und erweitert diesen um die je spezifischen Setzungen, die dem Herstellungsprozess vorausgingen und gleichsam aus diesem (neu, anders, gleich) hervorgehen.
Ein Analysemodell, das die genannten Herausforderungen annimmt und auf das bestehende Modell aufbaut, kann an der von Panofsky vorgenommenen weltanschaulichen Erweiterung der Bildinterpretation ansetzen, der zufolge nicht nur ein*e eindeutig identifizierbare*r Akteur*in/Autor*in über die Bildkomposition bestimmt, sondern auch der historische Erfahrungszusammenhang das Bild je spezifisch gestaltet. Darüber hinaus schließt die Positionierung in der Annahme, dass sich die Eigenlogik des Bildlichen in der Formalkomposition zeigt, an Imdahls Fokus auf die Ikonik an. Sie geht schließlich machtkritisch darüber hinaus, indem technische und algorithmische sowie gesellschaftliche Voraussetzungen – die diskursiven Bedingungen des Gewordenseins – berücksichtigt werden. Denn jeder praktisch vollzogenen Positionierung geht ein gesellschaftlich Bereits-Positioniert-Sein voraus. Über die Positionierung lassen sich die konstitutiven Bedingungen des Erscheinens, die auf/von der Plattform vorgenommen werden, rekonstruieren. Mit der Positionierung zeigt sich das Geworden-Sein der Bilder, während die Bilder selbst auf das Geworden-Sein antworten (können).
LITERATUR
Carnap, A., & Flasche, V. (2024). Körper und Kacheln. Zur un-/möglichen Konjunktivität an der Zoom- Schnittstelle. MedienPädagogik 60 (Themenheft: Becoming Data)
LiteraturquelleCarnap, Anna & Flasche, V. (2020): Diskursive Sichtbarkeiten – Aufführungen von Geschlechtlichkeit in (post)digitalen Jugendkulturen. In B. Hoffahrt, E. Reuter, S. Richter (Hrsg.), Geschlecht und Medien. Räume, Deutungen, Repräsentationen. Campus.
Carnap, A., Flasche, V., & Kramer, M. (2023). Posieren oder Sich-Positionieren. Die Rekonstruktion von Haltungen in jugendlichen Social-Media-Praktiken. In J. Engel, T. Fuchs, C. Demmer, & C. Wiezorek (Hrsg.), Haltungen. Zugänge aus Perspektiven qualitativer Bildungs- und Biographieforschung. Barbara Budrich.
David, G. (2021). A meta-analysis review of mobile image sharing. First Monday, 26(4), 1–15.
LiteraturquelleImdahl, M. (1980). Giotto, Arenafresken: Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. Wilhelm Fink.
Langford, M. (2021). Suspended conversations: The Afterlife of Memory in Photographic Albums. McGill-Queen’s University Press.
Müller, M. R. (2012). Figurative Hermeneutik: Zur methodologischen Konzeption einer Wissenssoziologie des Bildes. Sozialer Sinn, 13(1), 129–161.
LiteraturquellePanofsky, E. (1975). Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Rennaissance. In E. Panofsky (Hrsg.), Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (S. 36–67). Dumont. (Engl. Erstveröffentlichung: 1955: Meaning in the Visual Arts).
Pilarczyk, U., & Mietzner, U. (2005). Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Klinkhardt.
Przyborski, A. (2018). Bildkommunikation. Qualitative Bild- und Medienforschung.. De Gruyter.
LiteraturquelleSchäffer, B. (2009). Abbild – Denkbild – Erfahrungsbild. Methodisch-methodologische Anmerkungen zur Analyse von Alters-, Alterns und Altenbildern. In J. Ecarius & B. Schäffer (Hrsg.), Typenbildung und Theoriegenerierung (S. 207–232). Barbara Budrich.
LiteraturquelleSchreiber, M. (2020). Digitale Bildpraktiken. Handlungsdimensionen visueller vernetzter Kommunikation. Springer VS.
LiteraturquelleSchreiber, M. (2023). #strokesurvivor on Instagram: Conjunctive experiences of adapting to disability. MedieKultur: Journal of Media and Communication Research, 39(74), 50–72.
LiteraturquelleDE
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